Philosophische Anthropologie
wissen.« (Hartmann 1935, 186f.) Mit Hartmann ist das anthropologische Denken im Horizont von Naturwissenschaft und Naturphilosophie an eine Grenze gestoßen. Die proklamierte Sinnindifferenz der Natur für den Menschen macht es erforderlich, dass dieser sein Maß in anderen Umwelten suchen muss.
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Der Mensch in der Gesellschaft
Auch im Verhältnis von Mensch und Gesellschaft zeichnet sich im 19. Jahrhundert ein Perspektivenwechsel ab. Während zuvor hinter dem scheinbaren Wandel das wahrhaft Dauernde in der Ordnung der Dinge gesucht wurde, geht es nun auch in diesem Bereich darum, das Wandelbare als das Wahre zu erkennen. Es ist eine doppelte Destruktionsarbeit, die sowohl auf die idealen als auch auf die naturhaften Fundamente der Gesellschaftsordnung zielt. Friedrich Schlegel (1772–1829) hat in einem frühen Athenäums-Fragment davon gesprochen, dass die Französische Revolution, die kantische Vernunftkritik und der goethesche Bildungsroman Tendenzen einer anbrechenden Epoche vorstellen, in der alles Feste, Dauerhafte und Ruhende verflüssigt, verzeitlicht und in Bewegung gesetzt wird. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) hat in seiner Abhandlung
Glauben und Wissen
(1802) eine Kritik der Philosophien Kants, Jacobis und Fichtes vorgelegt. Dieser Form des Philosophierens wirft er vor, dass sie einen »Standpunkt, den die allmächtige Zeit und ihre Kultur für die Philosophie fixiert« hat, bloß übernimmt, statt ihn kritisch zu beleuchten. Gemäß dieser kulturellen Bedingtheit hat es die Philosophie nach Hegels Ansicht mit einem Konzept von Vernunft zu tun, das mit Sinnlichkeit affiziert ist. Zu den Konsequenzen dieser Vorannahme gehört es, dass die Philosophie nicht in der Lage ist, »die Idee des Menschen« darzustellen, sondern immer nur »das Abstraktum der mit Beschränktheit vermischten empirischen Menschheit« zeigt. (Hegel 1958/1, 292)
[71] Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Karl Marx
In Hegels
Phänomenologie des Geistes
(1807) kommt die Kritik einer anmaßenden Haltung, einer »Überzeugung des Zeitalters« zum Ausdruck, die mit Blick auf die empirischen Daten der Menschheitsgeschichte meint, ein unmittelbares Wissen des Absoluten, der Religion, des Seins erlangen zu können. Wer das versucht, hat es nach Hegel aber nur mit der vergänglichen, vorübergehenden, nicht wahrhaften Seite menschlichen Lebens zu tun. Nimmt man die bloß empirische Menschheit in den Blick, ist nicht zu erkennen, was der Mensch ist. So ist denn auch in der
Phänomenologie des Geistes
nicht vom Menschen die Rede, sondern vom »Geist« als einer Instanz, deren Träger der Mensch ist (»subjektiver Geist«), die sich in seinem Tätigsein artikuliert (»objektiver Geist«) und die gleichsam über ihn hinausweist (»absoluter Geist«).
Hegel bringt die Einsicht seiner Epoche als einer Zeit des sozialen und geistigen Wandels auf den Begriff: Alles, was ist, ist unbeständig, entwickelt sich immer weiter und kann nur als Moment dieser Entwicklung begriffen werden. Und um Entwicklung denken zu können, muss man eine Hypothese über ihren Anfang, ihre Richtung und ihr Ziel formulieren. Hegels Philosophie des Geistes leistet dies und entwirft ein grandioses Panorama der Kulturgeschichte, an deren Ende der absolute Geist oder die wahrhafte Menschheit steht, die gleichsam alle geschichtlichen Stadien ihrer Entwicklung durchlaufen und diese als Momente der Selbstbildung in sich aufgenommen hat. Dabei wird klar, dass es Hegel um das einzelne Entwicklungsmoment (Ereignis, Individuum) nur als Teil eines Gesamtprozesses geht. Für den Menschen interessiert er sich nur als Teil einer Gattung, einer Generation und Träger von Entwicklung. Zwar ist die Entwicklung in den Menschen als Bewusstseinssubjekt und sittliches Individuum verlegt (das Subjekt ist bekanntlich bei Hegel die Substanz), aber der einzelne Mensch wird nur als [72] Teil eines Ganzen, als der »allgemeine Mensch« in den Blick genommen.
Dieser Gedanke ist von großer Konsequenz, insofern einerseits die Natur über den Menschen als Teil einer Gattung und die Weltgeschichte über ihn als Teil eines Volkes hinweggeht (
Philosophie der Weltgeschichte
) und insofern andererseits der allgemeine Mensch Teil der objektiven Wirklichkeit, vor allem derjenigen des Rechts, ist. Im Paragraf 209 der hegelschen
Philosophie des Rechts
heißt es: »Es gehört der Bildung, dem Denken als Bewußtsein des Einzelnen in Form der Allgemeinheit, daß Ich als allgemeine Person aufgefaßt
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