Philosophische Anthropologie
Existenzbewältigung. Insbesondere der menschliche Faktor Bewusstsein liefert nach Gehlen den treffenden Beweis für die »besondere menschliche ›Technik‹, sich im Dasein zu erhalten« (Gehlen 1997, 63).
Gehlen zeigt in einer Analyse der Wahrnehmung, Bewegung [67] und Sprache, wie sich die Entlastung von der Unmittelbarkeit der Gegenwartssituation manifestiert. Seine »Gesamtanschauung des menschlichen Wesens« ist in ihrer Durchführung zwingend. Ist erst einmal vorausgesetzt, dass der Mensch in biologischer Hinsicht als Mängelwesen charakterisiert ist, das sich im Denken (Selbstdeutung) und Handeln (Feststellung) stabilisieren muss, dann lassen sich alle Aspekte menschlichen Verhaltens zur Außenwelt als Entlastungssysteme beschreiben. Das »Retardationsprinzip der Menschwerdung«, gemeint ist eine Verzögerung in der Ausbildung des menschlichen Organismus, die in der Natur keinen Vergleich findet, ist darauf gerichtet, die exklusiven Bedingungen der menschlichen Lebensfristung zu erzeugen. Die hier vorliegende Riskiertheit wird durch Formen der Fürsorge und des Spracherwerbs wie auch durch die Ausbildung von Bewusstsein kompensiert. Menschliches Handeln steht insgesamt unter diesem Aspekt der Gewinnung von Weltorientierung, die eben nicht naturgegeben ist. Vor allem in der sprachlichen Kommunikation treten Menschen in eine Gemeinschaft ein, um ihre Lebensfristung mithilfe der Institutionen des Rechts, der Sprache, des Tausches, der Religion usw. zu stabilisieren. Zwar verbietet es sich für Gehlen, der den Begriff der Ursache aus dem Zusammenhang von biologischer und geisteswissenschaftlicher Untersuchung verbannt hat, die genannten Institutionen aus dem Grundbegriff des Mängelwesens zu deduzieren. Dennoch können beide Sphären des Menschlichen nicht gleichgültig füreinander sein, das heißt, die physischen Bedingungen müssen auf die höheren Fähigkeiten hin angelegt sein. Die »teleologische Denkform« drängt sich gleichsam auf. (Gehlen 1997, 384f.)
Nicolai Hartmann (1882–1950) hat den Nutzen teleologischen Denkens im Sinne Gehlens vehement bestritten. Dabei betont er, dass es sich bei der teleologischen Denkform um eine allzu menschliche Tendenz des Nachdenkens über die Natur der Dinge handelt, die niemals gänzlich aufzuheben [68] sei. Dies liegt daran, dass der Mensch »die bedrückend empfundene Unerträglichkeit des Sinnlosen« nicht akzeptieren will. (Hartmann 1951, 14f.) Das ist der gemeinsame Horizont von sowohl naivem als auch wissenschaftlichem Anthropomorphismus. Dieser Position hält Hartmann entgegen, dass die Welt weder sinnwidrig noch sinnvoll, sondern sinnindifferent ist. Es ist unser allzu menschliches Bestreben, für uns eine Sonderstellung in der Welt zu reservieren, die das ganze Dilemma der anthropologischen Situation ausmacht. Der Mensch unterscheidet sich von den anderen Formen des Lebendigen durch sein sinnsuchendes und um Sinnerfüllung ringendes Wesen. Deshalb muss er in kritischer Reflexion vor die unvermeidliche und grundsätzliche Alternative gestellt werden: »entweder Teleologie der Natur und des Seienden überhaupt oder Teleologie des Menschen« (Hartmann 1935, 185).
Erst wenn der Mensch sich von einer naiven Naturbetrachtung befreit und die Restbestände anthropomorphen Denkens abgeschüttelt hat, dringt er zu der Einsicht durch, dass nur in der Selbstbezüglichkeit menschlichen Lebens alle Perspektiven notwendig teleologisch sind. Die menschliche Sphäre ist die des Sein-Sollenden, der Werte, die wir uns setzen, an denen wir unser Handeln absichtsvoll orientieren und die wir auch verfehlen können. Nur hier ist die Anwendung der Begriffe »Zweck« und »Zufall« sinnvoll, denn zweckvolle Absicht und zufälliges Ergebnis menschlicher Handlungen sind in die Grenzen eines sinnverstehenden Lebensbezugs eingeschlossen. Hartmann konzipiert eine Theorie der kulturellen Welt, die menschliches Tätigsein auf der Grundlage organischen Lebens aufruhen lässt, aber seine Entfaltung einer anderen Gesetzmäßigkeit unterstellt. (Hartmann 1933)
So kann er gegen Gehlen behaupten, dass die Lebensfristung zwar aus der Not entsteht, sich in der Durchführung jedoch als ein Vorrecht des Menschen erweist, sinnstiftend seine Welt zu gestalten. Allein in der Welt des Menschen gibt es [69] »konstitutive Teleologie […]. Hier, im Menschenwesen, haben wir alle Bedingungen beisammen, die dafür erforderlich sind. Ob es sie sonst noch in der Welt gibt, kann schließlich niemand
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