Philosophische Anthropologie
auf die Frage, wie der Mensch mit seiner Existenz klarkommt. Plessners Antwort auf diese Frage lautet: Er kommt mit seiner Existenz klar, weil er seinen Lebenshorizont objektiviert. Diese Leistung vollbringt der Mensch nicht als Geist- oder Kulturwesen, nicht als Erkenntnissubjekt, das sich die äußere Welt erschließt, sondern aus der Not und Fülle seiner leiblichen und geistigen Existenz. Aus innerer Not vollbringt der Mensch eine umfassende Objektivierungsleistung, mit der er sich eine
zweite Natur
, seine künstliche Welt, schafft. Objektivationen sind nicht die Ergebnisse der Distanzierung vom natürlichen Lebenshorizont, sondern sie sind die Antwort eines Wesens auf seine existenzielle Situation, die strukturell als distanziert, exzentrisch erfahren wird.
[65] Arnold Gehlen und Nicolai Hartmann
Auch Arnold Gehlen (1904–1976) richtet sich gegen falsche Dualismen und Monismen in den Wissenschaften vom Menschen. Gehlens philosophische Anthropologie hebt mit der These an, dass das Fehlen einer »Gesamtauffassung des Menschen« vor allem damit zusammenhängt, dass die Bedeutung seiner »Unfestgestelltheit« (Nietzsche) bisher in biologischer Hinsicht unterschätzt wurde. Statt den realen Menschen zu betrachten, haben die Philosophen zumeist eine metaphysische Perspektive auf den Menschen entworfen, die jedoch angesichts »der heutzutage erreichbaren Stromstärke der Reflexionsbeleuchtung« (Gehlen 1997, 10) ihre Plausibilität eingebüßt hat.
Anthropologisches Denken muss, so Gehlen, unmissverständlich in Rechnung stellen, dass der Mensch sich von allen anderen Lebensformen unterscheidet, weil nur er das Wesen ist, das sich selbst deuten muss. Der Versuch einer Deutung der eigenen Existenz ist dem Menschen wesentlich, er kann vor dieser Forderung nicht zurückweichen und muss sich notwendig eine Antwort geben. Es ist deshalb Zeit, den Menschen zum zentralen Forschungsgegenstand der empirischen Wissenschaften und einer empirischen Philosophie zu machen. (Gehlen 1997, 10f.) Dies erfordert es, angesichts der Vielfalt der Aspekte menschlichen Lebens, die es von anderen Lebensformen unterscheidbar machen (der aufrechte Gang, die Sprachfähigkeit usw.), dass ein einheitlicher Gesichtspunkt herausgearbeitet wird. Voraussetzung hierfür ist es, den Menschen als einen »einmaligen, sonst nicht versuchten Gesamtentwurf der Natur« (Gehlen 1997, 14) zu erfassen. Gehlen weist die Abstammungslehre als Erklärungsmodell der Menschwerdung vehement zurück, denn gerade das Nicht-Festgestelltsein markiert die entscheidende Differenz von Mensch und Tier. Nur für den Menschen ist die Daseinsbewältigung angesichts seiner physischen Mängel schon eine Leistung; deshalb lebt er nicht, wie jedes Tier, [66] sondern »er führt sein Leben« – nicht zum Spaß, sondern »aus ernster Not« (Gehlen 1997, 17).
In der von Gehlen entworfenen anthropobiologischen Perspektive werden die spezifischen Mittel analysiert, die in den Kontext menschlicher Daseinsbewältigung gehören. Dies sind die höheren Funktionen wie etwa Fantasie oder Sprache, die dem Menschen die Bewältigung seiner Daseinsnot ermöglichen, obwohl oder gerade weil diese in biologischer Perspektive unwahrscheinlich ist. Im Begriff des »Mängelwesens« fasst Gehlen die biologische Ausnahmesituation zusammen. Im Vergleich zum Tier ist der Mensch durch offensichtliche physische Mängel charakterisiert. Die Natur muss also in diesem Sonderentwurf einmalig aufgezeigt haben, dass die Gesetze des Lebens außer Kraft gesetzt werden können. In der Bestimmung »Mängelwesen« wird die physische Riskiertheit des Menschen benannt und seine Fähigkeit, das Dasein trotz ebendieser Mängel zu bewältigen, biologisch gedeutet.
Gehlens Analyse der menschlichen Natur mündet in eine Theorie der Kultur. Kultur als »natura altera« ist der Begriff für die vom Menschen zum Zweck der Lebensfristung umgearbeitete Natur. Gehlens Kulturtheorie beruht auf der Vorstellung einer teleologischen Struktur der Natur. Die Unangepasstheit, die Instinktunsicherheit, die physischen Schwächen, all das, was den Menschen zu einem Mängelwesen in biologischer Hinsicht stempelt, wird als zweckmäßig begriffen. Handlung, Sprache, die Antriebsmomente menschlicher Handlungen insgesamt bestätigen vor diesem Hintergrund die »großartige Teleologie« jedes Einzelaspekts der Organisationsform Mensch. Sie erscheinen als wohlbegründbare Strategien der Entlastung angesichts der ungeheuren Problematik der
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