Philosophische Anthropologie
seiner materiellen Produktion, dann könnte die Revolutionierung der sozialen Welt das Ende aller Illusionen mit sich bringen. Die so erreichbare Versöhnung von Leben und Bewusstsein, Wirklichkeit und Idee kommt einer Realisierung der Idee vom wirklichen Menschen gleich. Das ist zweifelsohne nur ein anderer Weg, Hegels Konzept vom allgemeinen Menschen programmatisch umzusetzen. Und es rechtfertigt, von seinem anthropologischen Programm her gedacht, den Vorrang des Allgemeinen vor dem Besonderen, des Gattungswesens Mensch vor dem jeweiligen Individuum, wie er noch in der Gesellschaftstheorie von Jürgen Habermas dominierend ist. (Honneth/Joas 1980, 141–155).
[75] Søren Kierkegaard
Für Søren Aabye Kierkegaard (1813–1855) ist das Bild vom Menschen in Form der Allgemeinheit eine leere Vorstellung. Er weist darauf hin, dass Hegel vergessen habe zu erörtern, was es heißt, Mensch zu sein. Und zwar Mensch im Sinne eines Ich und Du, Er und Wir und nicht als leere Allgemeinheit. Für Kierkegaard ist das Allgemeine des Geistes oder des Gattungswesens Mensch existenziell kraft- und wesenlos.
Kierkegaards Hegel-Kritik ist, ähnlich wie die seiner Zeitgenossen Stirner, Bauer und Marx, durchaus ambivalent. Im Gegensatz zu Marx geht es ihm aber nicht darum, Hegel auf die Füße der sozialen Wirklichkeit zu stellen, sondern eher darum, Hegel die Augen zu öffnen für die wahre Wirklichkeit. Diese besteht seiner Ansicht nach nicht in einer Summierung allgemeiner Momente. Wahre Wirklichkeit meint das Zufällige und Wunderbare der Tatsache, dass überhaupt etwas ist und dass ich überhaupt da bin. Der Gedanke von der Kontingenz des Daseins ist hier das Entscheidende, und zwar einer Kontingenz, die sich nicht beruhigen lässt. Beunruhigung, wie bei Augustinus, hier aber der »Verzweiflung« nah und damit ein Symptom existenzieller »Krankheit«, ist die Grundfigur des anthropologischen Denkens bei Kierkegaard. Die Beunruhigung resultiert aus dem Befund, dass der Mensch sich selbst nicht besitzt, sich wohl aber als Aufgabe vorfindet. So heißt es in der Eingangspassage zu der Schrift
Die Krankheit zum Tode
(1849): »Der Mensch ist Geist. Was aber ist Geist? Geist ist das Selbst. Was aber ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist dasjenige an dem Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält. Der Mensch ist eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigem, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz eine Synthese.« (Kierkegaard 2005, 9)
[76] Die Pointe dieser Argumentation lautet, dass der Mensch als Geist eine Verhältnisbestimmung zwischen den Antipoden des Unendlichen und Endlichen markiert. Diese Bestimmung ist jedoch nicht in einer Allgemeinheit gegeben, sie muss vielmehr von jedem Menschen in seiner Vereinzelung realisiert werden. Das Selbst ist eine Syntheseleistung, die zwar allgemeine Charakteristika menschlicher Existenz aufweist, aber dennoch immer nur die Leistung eines Einzelnen bleibt. Kierkegaard löst, wie schon Hegel vor ihm, die Statik von »Geist« auf und überträgt diese Dynamik auf den Bereich des Existenziellen, in dem die Endlichkeit des menschlichen Selbstverhältnisses in aller Radikalität als »Krankheit zum Tode« erfasst wird. Zu dieser Radikalität gehört auch die Einsicht, dass der Mensch aus eigener Kraft die geforderte Syntheseleistung nicht vollbringen kann. Die Beziehung zu Gott ist essenziell wichtig für das Gelingen des Sichverhaltens.
Kierkegaard denkt menschliche Existenz in den Rahmenbedingungen von Soteriologie (Lehre vom Erlösungswerk Christi) und Christologie. Der Zustand menschlicher Misere nach dem Sündenfall ist durch den Verlust einer verhältnisstiftenden Kraft gekennzeichnet. Für Kierkegaard ist klar, dass die Entwurzelung des Menschen auf ein Fehlverhalten zurückzuführen ist. Der Mensch kann seinem Zustand der Unruhe und Verzweiflung nicht entkommen. Er steht vor dem dringenden Erfordernis, für sich ein neues Gottesverhältnis herzustellen, um so ein positives Selbstverhältnis zu ermöglichen. Sich zu sich selbst zu verhalten, das bedarf nach Kierkegaards Auffassung einer dritten Instanz. So verweist die Synthese »Mensch« auf ein indirektes Gottesverhältnis. Über die Mittlerfunktion Christi, der eine Synthese von Endlichem und Unendlichem darstellt, knüpft der Mensch an seinen
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