Philosophische Anthropologie
Schöpfergott an und erfasst sich erst in dieser Beziehung als Mensch.
Die vollzogene Synthese »Mensch« bedeutet die Aufhebung seiner existenziellen Zerrissenheit. Auch Kierkegaard spricht [77] an dieser Stelle von der Entfremdung des Menschen, meint damit aber nicht das Verhältnis entfremdeter sozialer Beziehungen (wie Marx), sondern die »Entfremdung, die zu allen Zeiten sichtbar ist und die zur Existenz des Menschen selbst gehört« (Tillich 1969, 200). Für Kierkegaard hat diese Sichtbarkeit einen tiefen Grund in der – im christlichen Glauben fundierten – menschlichen Existenz.
Friedrich Nietzsche
Friedrich Nietzsche (1844–1900) hat in vielerlei Hinsicht auf das anthropologische Denken vor allem im frühen 20. Jahrhundert gewirkt. Neben seiner bereits skizzierten Auseinandersetzung mit dem Darwinismus sind seine Überlegungen zum Konzept der Illusion und zum illusionären Charakter menschlichen Erkennens hervorzuheben. Paradigmatisch sind diese in seiner Abhandlung
Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn
(1873). Hier entlarvt Nietzsche alle Wirklichkeitserkenntnis als ein Täuschungsmanöver des Menschen, das für seine Konstituierung als Selbst notwendig ist. Die Täuschungen oder Illusionen, auf denen Selbst- und Wirklichkeitserkenntnis beruhen, sind allerdings keine bloßen Epiphänomene und einer sozialen Lage geschuldet, sondern sie sind für den Menschen lebenserhaltend. Jede Illusion, die uns die Nichtigkeit unseres Daseins vergessen lässt, die uns über unsere Unfähigkeit hinweghilft, das Wesen unserer selbst, unserer Mitmenschen und der Dingwelt zu erkennen, ist ein Mittel der Lebenserhaltung. Wir Menschen maskieren uns, wie Nietzsche sagt, und wir tun dies mit einer solchen Meisterschaft, dass die Maske für das Eigentliche genommen wird – »Person« und »Selbst« verschmelzen. Was wir als Sinn für Wirklichkeit erachten, ist allerdings eine großartige Illusionsmaschine.
Die geistigen Formen sind Illusionen, aber sie sind nicht bloße Epiphänomene (Marx) oder Ausdruck einer [78] existenziellen Zerrissenheit (Kierkegaard), sie sind als anthropologische Grundformen eigengesetzlich. Sie sind das, was den Menschen auszeichnet. Ohne die Befähigung zum produktiven Vergessen oder unbewussten Lügen wäre der Mensch nicht Mensch; »alles, was den Menschen gegen das Tier abhebt, hängt von dieser Fähigkeit ab«. (Nietzsche 1973, 375). Es ist die Stärke Nietzsches, dass er die Ambivalenz dieser Fähigkeit herausarbeitet. Seine These vom tätig-illusionären Wesen, das im Akt des Vergessens und Lügens die Synthese »Mensch« erst herstellt, ist für das anthropologische Denken im nachchristlichen Horizont von großer Bedeutung. Nach Nietzsches Auffassung gibt es keine Wahrheit mehr, die nicht der geschichtlichen Dynamik unterliegt. Wahr ist, was lebensdienlich, was für die Anpassung an die Zumutungen der Existenz hilfreich ist. Wahrheit und Lüge sind für den Menschen, der vor der Einsicht in die Grundlosigkeit seiner Existenz zurückweicht, nur noch in seiner Lebenssituation unterscheidbar. Die Differenz von Wahrheit und Lüge zeigt sich nicht an den Vorstellungen an sich, sondern allein im gelingenden Leben.
Eine Konsequenz der Argumentation Nietzsches ist eine Zurückstellung des Menschen in die Natur. Zwar operiert auch er mit der Denkfigur vom Menschen als einer offenen Synthese, aber er entwickelt diese in der Spannung zwischen der biologischen Herkunft des Menschen und den Möglichkeiten seiner Selbstverwirklichung. In
Also sprach Zarathustra
(1883) findet sich das Bild vom Menschen als »Übergang« und vom Übermenschen als Möglichkeitskonzept. »Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde. Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege […]. Was groß ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist.« (Nietzsche 1968, 10) Dieses Bild ist einprägsam, doch zugleich unscharf. Offensichtlich ist der Mensch mehr als ein Tier und weniger als das, was die Synthese »Mensch«, den Übermenschen ausmacht.
[79] Eindeutig ist, dass für Nietzsche das Moment des Vergleichs von Mensch und Tier eine entscheidende Funktion hat. Dieser Vergleich gibt nämlich einen Maßstab an die Hand, um den Menschen seiner Herkunft nach bestimmen zu können. »Der Mensch [ist] das noch nicht festgestellte Thier, die spärliche Ausnahme.« (Nietzsche 1988, 81) Nietzsche akzeptiert einerseits die Konsequenzen
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