Philosophische Anthropologie
empirischen Naturwissenschaften gelieferte Datenfülle – und auch nicht die Natur als Objekt theoretischer Erkenntnis im Sinne des cartesischen oder kantischen Dualismus von Denken und Außenwelt. Natur ist vielmehr die Sphäre des Menschen, in der er seinen Existenzvollzug erfährt. In der von Plessner geforderten einheitlichen Erfahrungsstellung sind körperliches Sein, Naturhaftigkeit des Menschen und geistige Welt miteinander verschränkt.
»Die Ebene, auf die sich der Mensch immer von neuem unter Anstrengungen und Opfern aller Art hinaufspielen muß, die Ebene geistigen Tuns […] kreuzt sich mit der Ebene seines leiblichen Daseins. So hat der Existenzkonflikt, ohne den der Mensch eben nicht Mensch ist, eine Bedeutung auch für die philosophische Methode: er weist an der Janushaftigkeit dieses Lebewesens die Notwendigkeit einer Erkenntnis auf, die den Doppelaspekt seines Daseins – nicht etwa aufhebt oder vermittelt, sondern aus einer Grundposition begreift.« (Plessner 1975, 32) Hier zeigt sich der spezifische Charakter der philosophischen Anthropologie Plessners, deren systematisch ausgereifte Form hervorsticht. Plessner setzt in phänomenologischer Deskription die Grenze des Lebendigen zwischen den Bereichen der anorganischen und der organischen Natur. Ihm zufolge gibt es auf den verschiedenen Stufen des organischen Seins auch verschiedene Organisationsformen, die eine graduelle Abstufung der Lebendigkeit darstellen. Der Mensch markiert nun auch bei [63] Plessner die höchste Stufe der organischen Welt und zugleich deren Summe. Zwar bleibt der Mensch aufgrund seiner Organisationsform innerhalb der Sphäre des Tieres, aber das Selbstverhältnis des Menschen zu ebendieser Form seiner körperlichen Organisation unterscheidet sich wesentlich von dem des Tieres. Während das Tier im Hier und Jetzt aufgeht und ihm sein Sein verborgen bleibt, zeichnet sich der Mensch durch volle Reflexivität, das heißt Selbstbewusstsein, aus. Plessner entwirft das Bild einer zunehmenden Distanzierung des Naturkörpers von sich selbst: Das Tier hat Distanz zum eigenen Körper (Bewusstsein), der Mensch hat als Bewusstseinstier zu sich selbst Distanz (Selbstbewusstsein). Der Mensch repräsentiert keine eigene Stufe des Seins, da in ihm die geschlossene, tierische Organisationsform erhalten bleibt. Diese wird allerdings bis zum Äußersten durchgeführt, sodass eine »weitere Steigerung darüber hinaus […] unmöglich« (Plessner 1975, 291) erscheint.
Der Doppelaspekt von »diesseits« und »jenseits«, die Spannung zwischen Gebundenheit an die organische Sphäre und Entbundenheit, macht die Lebendigkeit menschlicher Organisationsform aus. Diese Unruhe ist nach Plessners Auffassung das Charakteristikum menschlicher Existenz.
Die Leistungsfähigkeit seiner philosophischen Anthropologie zeigt sich in der Applikation der drei anthropologischen Grundgesetze, die zugleich das Fundament seiner Kulturtheorie darstellen. (Plessner 1975, 309–346) Da ist erstens das »Gesetz der natürlichen Künstlichkeit«. Der Mensch, der aufgrund seiner exzentrischen Lebensform seine Entbundenheit und Haltlosigkeit in der natürlichen Welt empfindet und reflektiert, kompensiert diesen Mangel durch die Schöpfung künstlicher Welten. Kultur ist die zweite Natur des Menschen, in der er seine Existenz stabilisieren kann. Dem korrespondiert das »Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit«. Der Mensch hat in jeder Hinsicht den unmittelbaren Bezug zu seiner Umwelt verloren, das heißt, er weiß um die Differenz zwischen Ding an sich und Bewusstseinsinhalt, [64] zwischen Gefühl und Gefühlsausdruck. So schafft er sich symbolische Ordnungen wie Riten und Zeichensysteme, um den Mangel an Unmittelbarkeit durch verfeinerte Formen der Vermittlung kompensieren zu können. Und da ist drittens das »Gesetz des utopischen Standorts« als Summe der genannten Gesetze und Grundbedingung der »conditio humana«. Im Vollzug des Lebens und in der Reflexion auf ebendiesen Lebensvollzug gelangt der Mensch zu der Einsicht, dass seine Existenz den Stempel der Vergänglichkeit und Nichtigkeit trägt. Weil sich mit dieser Einsicht schlecht leben lässt, sucht er einen archimedischen Punkt, um sich zu positionieren. Dieser Punkt muss – aufgrund der exzentrischen Positionalität seiner Lebensform – außerhalb seiner selbst liegen.
Die anthropologischen Grundgesetze ergeben die Rahmenbedingung der Daseinsbewältigung. Sie liefern gleichsam in formaler Hinsicht eine Antwort
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