Philosophische Anthropologie
werde, worin Alle identisch sind. Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist.« (Hegel 1952/7, 286) Das allgemeine Moment, von dem bei Hegel die Rede ist, ist die in der Menschheit (als Identität aller) repräsentierte und letztendlich im Gang der Geschichte auch verwirklichte Idee des einen Gottes. Die Weltgeschichte ist die Selbstoffenbarung des einen Gottes in der Menschheit. Der Mensch ist nur wirklicher Mensch, insofern er an diesem Prozess teilhat. Was an ihm wirklich ist, das ist letztendlich ein Stück heilsgeschichtlicher Allgemeinheit.
Der von Hegel behauptete Vorrang des Allgemeinen vor dem Besonderen in der Bestimmung des Menschseins ist späterhin vehement von Kierkegaard und Nietzsche bestritten worden. Die erste Phase der Hegel-Kritik richtet sich jedoch nicht auf diesen Punkt, sondern wendet sich gegen seine Bestimmung des Allgemeinen. Ludwig Feuerbach (1804–1872) legt im Kern der hegelschen Philosophie ein anthropologisches Argument frei. Seiner Auffassung nach ist die Idee des einen Gottes eine Hypostasierung seiner selbst und damit die bloße Illusion eines allgemeinen Menschen. Statt nämlich sich selbst in den Blick zu nehmen, entwirft sich der Mensch eine zweite, religiöse und illusionäre Welt, in der er nicht bei sich, sondern von sich selbst entfremdet lebt. So wird das Konzept von Allgemeinheit zum Fixpunkt der Selbstentfremdung.
[73] Karl Marx (1818–1883) geht einen Schritt weiter, wie die vierte Feuerbach-These der Abhandlung
Deutsche Ideologie
(1845/1846) belegt. Zwar erkennt Feuerbach, wie Marx betont, die Verdopplung in eine wirkliche und eine religiösillusionäre Welt, aber er verkennt die Gründe hierfür. Nach Marx ist diese Verdopplung nicht im Wesen des Menschen angelegt (wie Feuerbach behauptet), noch ist die religiöse Illusion »die allgemeine Illusion der Menschheit« (wie der Religionskritiker Bruno Bauer schreibt), sondern dieser illusionäre Sachverhalt »ist nur aus der Zerrissenheit und dem Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage [gemeint ist die soziale Lage] zu erklären« (Marx 1971, 340).
Das ist ein entscheidendes und folgenreiches Argument. Marx verlagert die Widersprüche der menschlichen Lebenswirklichkeit allein auf die Seite des sozialen Seins und reduziert die Momente der hegelschen Philosophie des Geistes zu bloßen Ausdrucksphänomenen. Gegenüber Feuerbach ist das ein Schritt voran, denn Marx führt die anthropologische Fragestellung auf ihre »weltliche Grundlage« zurück. Nach dem Menschen zu fragen heißt fortan, seine soziale Lage zu analysieren. Dass sich der Mensch ein Bild von sich selbst macht und es zu einer Gottesidee hypostasiert, ist so gesehen Ausdruck einer sozialen Notlage, die uns Menschen eine solche Flucht ins Imaginäre abnötigt. Dementsprechend heißt es in der Einleitung zur
Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie
(1844): »Die Forderung, die Illusionen über einen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf.« (Marx 1971, 208)
Von diesem Standpunkt aus betrachtet sind Hegel und Feuerbach gleichermaßen Theoretiker des Illusionären, oder wie es nun heißt: Ideologen. Ideologisch argumentiert, wer eine geistige Form – Moral, Religion, Wissenschaft – nicht auf ihre materielle Basis zurückführt. Marx geht so weit, jede geistige Form und Idee als Ideologie zu bezeichnen. Beim Wort genommen heißt das: Jede Distanznahme von der weltlichen [74] Grundlage, also der sozialen, politischen und ökonomischen Basis der Lebenswirklichkeit, steht unter Ideologieverdacht. Jedes Bewusstsein, dem nicht in dialektischer Umsetzung direkt und unverstellt eine Seinslage korrespondiert, ist ein ideologischer Irrweg. Dieser Ausweitung des Ideologiekonzepts wird die Utopie eines Gesellschaftszustandes entgegengestellt, der keiner Illusionen mehr bedarf. Grundsätzlich ist dann nicht jedes Bewusstsein ideologisch, sondern nur dasjenige, das in der Selbstentfremdung des Menschen begründet ist. Der Grund der Selbstentfremdung ist der Zustand einer Gesellschaft, die es dem Menschen nicht gestattet, so zu leben, wie es ihm als »wirklichem Menschen« angemessen wäre.
Die marxsche Ideologiekritik führt damit in eine Anthropologie mit utopischem Kern. Und sie folgt, trotz aller Abwehrbewegungen, der Linienführung der hegelschen Geschichtsphilosophie. Ist nämlich die ideelle Produktion des Menschen ein bloßer Reflex
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