Philosophische Anthropologie
in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts
(1904) beschreibt paradigmatisch den Versuch einer zurückliegenden Epoche, den Zusammenbruch eines Weltbilds (der mittelalterlichen Anthropologie und Kosmologie) zu reflektieren und produktiv zu verarbeiten. Dabei zeigt sich, dass die angestrebte Restitution der »Einheit des menschlichen Daseins« in der frühen Neuzeit ein uneingelöstes Versprechen bleibt. Gleichwohl kann dieses Unterfangen als Leitfaden dienen, um in einer vergleichbaren Situation einer neuen Herausforderung (Entwicklungslehre) entgegenzutreten.
Diltheys Darstellung der Funktionsleistung anthropologischen Denkens in der frühen Neuzeit ist von dem Gedanken getragen, dass diese Epoche und seine Gegenwart eine strukturelle Analogie aufweisen. In den Schriften von Cardano, Lipsius, Montaigne, Telesio, Vives und Charron wie auch in den Schriften seiner Zeitgenossen entdeckt er das Bestreben, für das Absterben einer vormals dominierenden Kultur- und [94] Begriffswelt eine Erklärung und auf diese Herausforderung eine Antwort zu finden. Diese Antworten beleuchten nicht das Ganze des menschlichen Daseins, sondern nur Aspekte desselben. Sie vertiefen zwar das Wissen des Menschen von sich, lösen aber nicht das Rätsel seines Lebens. Hier muss die Philosophie wiederum ansetzen und sich auf den Menschen zurückwenden. Philosophie ist unter der Bedingung, dass die Strukturen des Lebens und Denkens sich in Auflösung befinden, nichts anderes als Anthropologie. »Die Philosophie muß nicht in der Welt, sondern in dem Menschen den inneren Zusammenhang ihrer Erkenntnisse suchen. Das von den Menschen gelebte Leben – das zu verstehen ist der Wille des heutigen Menschen.« (Dilthey 1911, 6)
Diltheys Überlegungen zu Geschichtlichkeit, Variabilität und Pluralität des Menschseins lassen sich in seinen späten Studien zum
Aufbau der geschichtlichen Welt
(1910) nachvollziehen. Die Suche nach den Strukturbedingungen der geschichtlichen Welt führt in den dramatischen Gegensatz zwischen einer Einsicht in die »Variabilität menschlicher Daseinsformen« und »Mannigfaltigkeit der Denkweisen« als geschichtlicher Tatsache auf der einen Seite und einem unauflösbaren metaphysischen Bedürfnis des Menschen auf der anderen Seite, sich einer festen Stellung in dieser Wirklichkeit zu versichern. Den Grund von Variabilität, Pluralität und Geschichtlichkeit erfasst Dilthey im Begriff des Lebens. Die Tatsache des Lebens hat ein Fundament im physischorganischen Leben, bewirkt aber eine Vielzahl von Objektivationen (Gesten, Zeichen, Sprache, Sitte usw.). Der Fluss der Objektivationen ist weder von seinem Ursprung her noch im Hinblick auf sein Ziel bestimmbar. Leben ist für Dilthey ein Immer-schon-in-der-Welt-Leben, das sich im Erleben ausdrückt und in einem nachkommenden Akt der Reflexion erst Bewusstsein von etwas und Bewusstsein seiner selbst hervorbringt.
Der Mensch ist nach Diltheys Ansicht zugleich der Lebensfluss und die ihn bändigende Kraft der Objektivation. Diese [95] Kraft ist nicht etwas, was zum Leben hinzutritt, sondern aus der Mitte des Lebens selbst hervorgeht. Die Konstitution von Selbst und Welt muss dementsprechend als ein Wechselverhältnis aufgefasst werden, dessen letzter Grund im Leben wurzelt. »Machen wir Ernst mit dem Satze, daß auch das Selbst nie ohne dies Andere oder die Welt ist, in deren Widerstand es sich findet.« Und er fügt hinzu: »[…] die Welt ist stets nur Korrelat des Selbst.« (Dilthey 1968, 18) Auch Dilthey wendet sich der anthropologischen Grundfrage zu, wie das Leben eine geistige Existenz des Menschen bedingt und wie eine Grenzbestimmung von Natur und Kultur weiterhin möglich bleibt.
Phänomenologie und Existenzphilosophie
Gegen die philosophische Anthropologie als Theorie kultureller Existenz ist bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine ganze Reihe von Einwänden formuliert worden. Hierzu gehören der Vorwurf des Anthropologismus durch den Phänomenologen Edmund Husserl (1859–1938) und die Thesen der Existenzphilosophien im Umkreis von Martin Heidegger (1889–1976) und Karl Jaspers (1883–1969), für die kulturelle Existenz nur ein anderer Name für moderne Oberflächenexistenz ist.
Husserl hat nicht nach dem Menschen, sondern nach der Welt und den Strukturbedingungen von Erfahrung und Welterkenntnis gefragt. Die Welt ist für ihn der »Gesamtinbegriff von Gegenständen möglicher Erfahrung und Erfahrungserkenntnis«. Erfahrungserkenntnis konstituiert sich
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