Philosophische Anthropologie
sich, kann es auch gar nicht sein, sondern strebt immer über sich hinaus. Der Mensch steht in der Spannung zwischen der Umwelt, die ihn einbindet, und seiner Unruhe, die ihm keinen Halt erlaubt. Dass dies so ist, lässt sich anhand von Phänomenen (Gegenständen, sozialen Tatsachen) und Stimmungen (Furcht, Angst) beschreiben, aber nicht restlos objektivieren.
Heideggers phänomenologische Analyse des In-der-Welt-Seins ist brillant und sie ist tatsächlich »aus einem Guss« (Plessner). Aber bei Heidegger dient diese Analyse nur der Vorbereitung einer vehementen Anthropologiekritik. Ihm geht es nicht darum, die Korrelation von Selbst und Welt (Dilthey) oder die Spannung von intentionalem Welterfassen und passiver Welthabe (Husserl) aufzuhellen. Ganz im Gegenteil läuft seine Untersuchung darauf hinaus, wie das zweite und das dritte Kapitel in
Sein und Zeit
(1927) zeigen, das In-der-Welt-Sein als defizitären Modus für die Konstitution des Da-Seins freizulegen. (Heidegger 1986, 53ff.) In geradezu ideologiekritischer Absicht wird eine Differenz zwischen eigentlichem und uneigentlichem Dasein eingeführt. Heidegger destruiert so alle Bestrebungen, die Korrelation von Selbst und Welt in ihrem Ansatz (Natur, Leben) und von ihrem Zielpunkt (Kultur, Geist) her zu begreifen.
Diese Überlegungen haben zur Folge, dass Heidegger alle Weisen des In-der-Welt-Seins in die Entfremdungsspirale hineintreibt. Er liefert damit eine hellsichtige Analyse der Paradoxie, dass wir Menschen befähigt sind, eine Wirklichkeit hervorzubringen, die uns in ihrer starren Faktizität verleugnet. Er fügt freilich eine abgründige Konsequenz hinzu, indem er diese Ausnahme einer misslingenden Objektivation [101] menschlichen Lebens zum Regelfall menschlicher Existenz erhebt. Statt die anthropologische Situation weiter aufzuhellen, deutet er sie als einen Schicksalszusammenhang, dem nur das Da-Sein in seiner radikalen Vereinzelung entgegentreten kann. Insofern zeigt sich bei Heidegger eine Verengung der anthropologischen Perspektive. Betrachtet man die Aspekte des modernen Kulturbewusstseins, so wird die Geschichtlichkeit des Daseins auf Kosten der Variabilität und Pluralität des Menschseins herausgestellt. Heideggers wirklicher Mensch wählt entschlossen seine Existenzweise und behauptet diese »Eigentlichkeit« gegen jede Tendenz der Veränderlichkeit und Pluralisierung des menschlichen Selbstbilds.
Dieses Grundmotiv der Selbstbehauptung des Menschen gegenüber den Zumutungen der modernen Kultur kehrt auch bei den nachfolgenden Vertretern der existenzialphilosophischen und phänomenologischen Schulen wieder. In auffallender Nähe steht hier Jean-Paul Sartre (1905–1980), der in seinem Werk
Das Sein und das Nichts
(1943) die Situation des Menschen ebenfalls im Horizont von Verlassenheit und Verzweiflung einfasst. Sartre radikalisiert gleichsam das Freiheitsproblem, indem er die menschliche Wahlfreiheit vor einen existenziellen Abgrund stellt. Es kommt nach Sartres Ansicht auf den einzelnen Menschen an, durch Negation der gegebenen Welt sich selbst zu entwerfen. Absolute Freiheit in existenzialer Hinsicht meint, dass der Mensch das ist, was er aus sich macht. »Der Mensch wird das sein, was er sich entwirft zu sein.« (Sartre 1968, 23)
Karl Jaspers (1883–1969) kommt es hingegen darauf an, die Isolation des Selbst aufzuheben und dem Menschen sein Vertrauen in die Welt zurückzugeben. Jaspers betont in seinem dreibändigen Hauptwerk
Philosophie
(1932) die schöpferische Kraft des Menschen, sein eigenes Sein zu gestalten. Unter den Gesichtspunkten »Weltorientierung«, »Existenzerhellung« und »Metaphysik« entwirft er ein Panorama des Menschseins, das den Kern menschlicher Existenz, die [102] »Unfestgestelltheit« und »Unruhe« der Objektivierung, nicht gänzlich einem philosophisch reflektierten Zugriff entzieht. Jaspers denkt in dialektischen Figuren. Weltorientierung ist nur möglich, wenn die Grenzen objektivierender Welterkenntnis überschritten werden. Existenzerhellung setzt die Selbsttranszendenz auf einen anderen in kommunikativen Situationen voraus. Transzendenz ist als Bedingung für die Möglichkeit existenzieller Freiheit zwar unverfügbar, muss sich aber in »Chiffren« artikulieren lassen. In Natur, Geschichte und Freiheit findet die Konstituierung des Menschen, obschon er radikal auf sein Selbst zurückgeworfen wird, dennoch in der Kommunikation mit dem anderen statt. Wahrhaftes Menschsein erschließt sich für Jaspers, in
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