Philosophische Anthropologie
Leistungen für göttliche Gabe oder natürliche Mitgift. Die Anfänge eines solchen Kulturbewusstseins finden sich im 18. Jahrhundert, in der Epoche der Aufklärung, doch erst das 19. Jahrhundert entfaltet die genannten Aspekte der Geschichtlichkeit, Variabilität und Pluralität menschlicher Kultur.
Diese drei Aspekte menschlicher Kulturalität markieren in kulturtheoretischer Hinsicht die Summe einer Debatte, [89] die sich von der hegelschen Geschichtsphilosophie abwendet und zugleich einen Vorbehalt gegenüber der darwinschen Perspektive hegt. Hier geht es um Kulturgeschichtsschreibung, und zwar im Koordinatenkreuz der anthropologischen Grundlagen des »homo creator« und seiner eigengesetzlichen Entwicklung als Kulturwesen. Es geht weiterhin um die Frage nach dem Menschen im Horizont eines sinnindifferenten unendlichen Weltgeschehens und um eine Bestimmung der vom Menschen ausgehenden Kräfte, die im Kulturprozess wirken. Am vorläufigen Ende dieser Entfaltung des Erkenntnisproblems steht die Einsicht Max Webers, dass »Kultur […] ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens« ist (Weber 1988, 180).
Jacob Burckhardt
Der Basler Gelehrte Jacob Burckhardt (1818–1897) hat in seinen Vorlesungen der Jahre 1868 und 1870/71 über das Studium der Geschichte, die unter dem Titel
Weltgeschichtliche Betrachtungen
herausgegeben wurden, diese doppelte Fragestellung des »homo creator« und seiner eigengesetzlichen Entwicklung als Kulturwesen in den Blick genommen. Am Anfang steht bei Burckhardt eine Kritik der hegelschen Geschichtsphilosophie, die sich seines Erachtens die Chronologie und Zwangsläufigkeit ihrer Darstellung durch einen Trick erkauft hat. Einerseits gibt Hegel vor, den letzten Zweck von kultureller Entwicklung zu kennen, andererseits sieht er in seiner Gegenwart die Erfüllung aller Zeit. Zwar bestreitet Burckhardt einer religiösen Geschichtsübersicht, die Anfang und letzten Zweck von Geschichte zu kennen meint, nicht ihr besonderes Recht. Ebenso verfährt er mit anderen Sozial- und Naturgeschichten. Diese Weisen der Geschichtsschreibung gehen ihn »hier nichts an«. Stattdessen [90] plädiert er dafür, in der Betrachtung der Geschichte vom Menschen aus zu fragen.
»Unser Ausgangspunkt ist der vom einzigen bleibenden und für uns möglichen Zentrum, vom duldenden, strebenden und handelnden Menschen, wie er ist und immer war und sein wird.« (Burckhardt 1978, 5f.) Der Mensch steht bei Burckhardt im Zentrum der Geschichte, weil er der einzig verbleibende Ausgangspunkt geschichtlicher Betrachtung ist. Diese skeptische Perspektive durchzieht sein Geschichtsdenken und findet vor allem in den großen Studien zur Spätantike,
Die Zeit Constantins des Großen
(1853), und zur Renaissance,
Die Cultur der Renaissance in Italien
(1860), eine beeindruckende Form.
Mit Burckhardts Werk nimmt der »menschliche Standpunkt« (Karl Löwith) in der Kulturgeschichtsschreibung Gestalt an. Wesentlich ist hierfür die Annahme vom duldenden, strebenden und handelnden Menschen, der auf allen Stufen seiner Entwicklung versucht, seinem Leben eine Form zu geben. Diesem Sachverhalt möchte Burckhardt gerecht werden. Er nennt in hegelscher Tradition das formgebende Prinzip »Geist« und meint damit sowohl die formende Kraft des Menschen als auch die Formgestalten (Sprache, Recht, Religion usw.), welche die Kulturgeschichte der Menschheit ausmachen. In diesem Ansatz der hegelschen Geistphilosophie nahestehend, kommt es Burckhardt doch darauf an, die Momente der »Wandelbarkeit«, »Vielheit« und »Geschichtlichkeit« des Geistigen hervorzuheben. Dem skeptischen Betrachter des Geschichtsverlaufs zeigt sich, dass der »Wechsel der Zeiten die Formen, welche das Gewand des äußeren wie des geistigen Lebens bilden, unaufhörlich mit sich rafft« (Burckhardt 1978, 7).
Im Formenwechsel der Geschichte bleibt nur die Unvergänglichkeit des Formprinzips bestehen. Überhaupt beruht der Gedanke der Vergleichbarkeit historischer Zeiten und gegenwärtiger Kulturen nach Burckhardts Auffassung allein auf der Voraussetzung, dass in allem Wandel der Mensch sich in [91] seinem Tätigsein immer gleich bleibt. Von seinen Ausdrucksformen oder »Potenzen« nennt Burckhardt drei: Kultur, Staat, Religion. Diese untersucht er in ihrer wechselseitigen Bedingtheit, um anhand ihrer jeweiligen Konjunkturkurven geschichtliche Verläufe diagnostizieren zu können.
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