Philosophische Anthropologie
wissenschaftlichen Beobachtung treten die kulturellen Unterschiede zwischen sozialen Gruppen und Individuen hervor und werden in der Ethnologie, der vergleichenden Sprachwissenschaft und Kulturgeschichte, der Soziologie usw. reflektiert. In der Nachfolge Johann Gottfried Herders und Wilhelm von Humboldts legt eine bedeutende Tradition der Kulturgeschichtsschreibung den Schwerpunkt in der Kulturanalyse auf das Moment der Vergleichbarkeit. Nietzsche hat seine Gegenwart das »Zeitalter der Vergleichungen« genannt und damit die Position des Historismus gemeint. Beobachtbare Unterschiede zwischen den Kulturen werden angesichts der Maxime unendlicher Vergleichbarkeit als Momente einer allgemeinen Kulturgeschichte aufgefasst. So stehen sich seit dem 19. Jahrhundert zwei Denkstile gegenüber, von denen nur einer die Auseinandersetzung mit dem Anderen, Fremden und Neuen in der [87] kulturgeschichtlichen Entwicklung eines Volkes als Bereicherung und Element von Identitätsbildung ansieht. Hier wird ebenfalls die soziokulturelle Variabilität als Konstituens von Menschsein angesehen und die aus ihr resultierende Pluralität menschlicher Kulturformen als »source of pleasure« (John Stuart Mill) erlebt.
Nur unter der Voraussetzung einer positiven Anerkennung von Pluralität wird diese Situation auch als Chance begriffen. »Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ›unendlich‹ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schließt.« (Nietzsche 1988, 626 f.) Nietzsche thematisiert dieses zentrale Merkmal eines pluralistischen Kulturverständnisses. Gemeint ist ein offener Horizont menschlichen Tätigseins, in dem jedes zukünftige Kulturschaffen, -erleben und -verstehen als gleichwertig mit gegenwärtigem und vergangenem angesehen wird. Das Moment unendlicher Vergleichbarkeit impliziert die Anerkennung von Gleichwertigkeit. Damit ist die Einsicht Darwins, dass Naturentwicklung kein Telos hat und sich die Begriffe »höher« und »niedriger« nicht in die Beschreibung einschleichen dürfen, auch in die Kulturgeschichtsschreibung eingedrungen.
Gegen diese Einsicht hat sich der Darwinismus und die aus ihm hervorgehende Völker- und Rassentheorie vehement aufgelehnt. Das 20. Jahrhundert markiert die wechselvolle Geschichte des Widerstreits dieser prominenten Positionen. Gerade im anthropologischen Denken zeigt sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die unheilvolle Tendenz, den Verlust tradierter Ordnungsvorstellungen durch neue Wertordnungen zu kompensieren, um so das Konzept des geschichtlichen, variablen und vielfältigen Menschseins zurückzudrängen. Die Anbindung der Bestimmung des wirklichen Menschen an Klassen-, Volks- oder Rassenzugehörigkeit ist gleichsam die Perversion der abendländischen Menschheitsidee und eine Leugnung ihrer griechischen und jüdisch-christlichen Fundamente.
[88] Jenseits dieser ideologischen Zuspitzung fokussiert ein zentraler Streitpunkt die Frage, wie die Grenze zwischen Natur und Kultur zu ziehen ist. Die Forschungsergebnisse der Paläontologie dokumentieren, dass die Annahme eines graduellen Übergangs von einer tierischen Vorform zum Frühmenschen als Hypothese zwar brauchbar, aber nicht verifizierbar ist. Wo wir auf Frühstadien kulturellen Lebens (Werkzeugbau, Sprachentwicklung, künstlerischer Ausdruck) treffen, da haben wir es mit dem Menschen und nicht mit seiner Vorform zu tun. Der Mensch ist von den Anfängen seiner Entwicklung an ein Kulturwesen; Kulturalität ist der zentrale Aspekt der menschlichen Natur. Mit dieser Einsicht weicht der starre Gegensatz von Natur und Kultur auf, er wird in ein spannungsreiches Entwicklungsmodell übersetzbar. Dann lässt sich sagen, dass die Natur den Menschen zur Kultur drängt, aber auch, dass er seine eigene Natur verändert und bestimmt. Wenn das so ist, verlieren alle einfachen Modelle von der Natur des Menschen wie auch alle romantisierenden Vorstellungen von einem paradiesischen Urzustand ihren Halt.
Vom Standpunkt des Erkenntnisproblems hat die Frage nach der Grenze zwischen Natur und Kultur zudem einen geschichtlichen Horizont. Zwar können wir sagen, dass das Verhältnis des Menschen zu seiner Kultur ein urzeitliches ist, aber wir müssen hinzufügen, dass es ihm über weite Strecken der Kulturentwicklung verborgen blieb. Erst in der Neuzeit wird sich der »homo creator« (Michael Landmann) seiner schöpferischen Rolle bewusst, zuvor hielt er seine kulturellen
Weitere Kostenlose Bücher