Philosophische Anthropologie
Auf diese Weise holt Burckhardt in der historischen Betrachtung seine erkenntnistheoretische Prämisse nachträglich ein. Denn die These, dass der Mensch das einzig verbleibende Zentrum der Betrachtung sein kann, wird erst angesichts der Krise politischer und religiöser Institutionen verständlich.
Immer wieder zeigt sich die Geschichte als ein Ringen zwischen den Kräften der Erneuerung und der Beharrung, die im Menschen selbst angelegt sind. Im Streben und Dulden manifestiert sich die Spannbreite menschlichen Tätigseins, die auf unterschiedlichen Stufen der Kulturentwicklung verschiedene Ausdrucksformen findet. Wenn es nach Burckhardts Ansicht einen Trend gibt, dann bestenfalls eine zunehmende Befreiung des seiner selbst bewussten »homo creator«. Der moderne Kulturmensch, der zu der Einsicht durchgedrungen ist, dass er es im Spiegel der Kultur nur noch mit seinen Entwürfen zu tun hat, wirkt im Vergleich zu seinen Vorläufern in anderen Epochen wie entfesselt. Für Burckhardt hat dieser Gewinn an Reflexivität durchaus eine Kehrseite, die wir als Maßlosigkeit erfassen können. So gibt es auch keinen Grund, von einem Fortschritt in der Geschichte zu sprechen. Burckhardt versagt sich jedwede Prognose. Der Geschichtsskeptiker kennt nicht den Zweck von Entwicklung, auch keine Hinterabsicht der Geschichte. Ihm zeigt sich nur »das geschichtliche Leben, wie es tausendgestaltig, komplex, unter allen möglichen Verkappungen, frei und unfrei daherwogt, bald durch Masse, bald durch Individuen sprechend« (Burckhardt 1978, 9).
[92] Wilhelm Dilthey
Neben Burckhardt ist Wilhelm Dilthey (1833–1911) der zweite große Geschichtsdenker und Anthropologe des späten 19. Jahrhunderts. Auch Diltheys philosophie- und wissenschaftsgeschichtliche Arbeiten, vor allem seine Vor- und Nacharbeiten zur
Einleitung in die Geisteswissenschaften
(1883), drehen sich um die zentrale Fragestellung, aus welchen Gründen und mit welchen Konsequenzen der Mensch ins Zentrum des philosophischen Forschens gelangen konnte. Er vermutet, dass »der tiefste, in der psychischen Verfassung des modernen Menschen selbst liegende Grund dafür, daß jetzt die Metaphysik ihre bisherige geschichtliche Rolle ausgespielt hat«, einen Hinweis zur Beantwortung dieser Frage geben wird. (Dilthey 1990, 356)
In seinen Studien zur neuzeitlichen Geistes- und Kulturgeschichte analysiert Dilthey den Zusammenbruch eines metaphysischen Weltbilds, das nicht nur Lebensformen, sondern auch Denkformen durchdrungen hat. Zuerst sind es die Wissensdisziplinen Psychologie und Anthropologie, die den Versuch unternehmen, die prekäre Stellung des Menschen im Kosmos zu bestimmen. Dann drängt sich im 18. Jahrhundert die Geschichtstheorie als Grundlagendisziplin in den Vordergrund, um im 19. Jahrhundert durch die Biologie in diesem Anspruch abgelöst zu werden. Im Rückblick über die Jahrhunderte zeigt sich ein dramatisches Spiel von Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Denn immer wieder wurde unter verschiedenen Vorzeichen versucht, einen Typus Mensch zu kreieren, der im Zentrum wechselnder Weltbilder einen archimedischen Punkt darstellt.
Das entwicklungsgeschichtliche Denken im 19. Jahrhundert hat noch diese letzte Selbstverständlichkeit destruiert. Wird nämlich die entwicklungsgeschichtliche Perspektive auf die Analyse der natürlichen und historischen Entwicklung des Menschen insgesamt ausgeweitet, dann löst sich der Typus Mensch folgerichtig in den Prozess seiner Entwicklung auf. [93] Was vormals als archimedischer Punkt und Gegenbegriff zu Gott, Natur, Gesellschaft und Geschichte erschien, ist nun lediglich ein Moment von Entwicklung. Und zwar einer Entwicklung, die gegenüber dem Selbstverständnis des Menschen indifferent ist.
Dieser dramatische Umschlag offenbart nach Diltheys Ansicht die Signatur einer modernen Bewusstseinsstellung. Die Entwicklungslehre fordert geradezu die Einsicht in die Relativität jeder natürlichen und geschichtlichen Lebensform. Dilthey weiß und bringt wiederholt zum Ausdruck, dass er diesen Umschlag im Bewusstsein für unumkehrbar hält und die hieraus zu ziehenden Konsequenzen für unaufhaltsam. Deshalb sind seine Forschungsarbeiten zur Kultur- und Geistesgeschichte als Suchbewegungen zu lesen, die nach der Position des Menschen inmitten einer natürlichen und geschichtlichen Welt fragen, die wesentlich durch die Aspekte der Pluralität, Variabilität und Geschichtlichkeit geprägt ist.
Diltheys Abhandlung
Die Funktion der Anthropologie
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