Philosophische Anthropologie
scheitern muss, [98] wenn wir den Menschen zum Ausgangspunkt und Zielpunkt unserer Fragestellung machen. Bereits die Formulierung der Frage »Was ist der Mensch?« legt dieses Scheitern nah.
Diese Überlegung findet sich auch bei Martin Heidegger (1889–1976), der ihr aber eine andere Zielrichtung gibt. Mit Husserl teilt Heidegger die phänomenologische Methode, nicht jedoch die Problemstellung der Philosophie. Von Kierkegaard herkommend, erkennt er in der Entwurzelung das Grundmerkmal des modernen Menschen. Das wesentliche Problem gegenwärtigen Philosophierens ist seiner Auffassung nach die Entdeckung des geschichtlichen Sinns von Sein, die für die Frage nach der Wirklichkeit des Menschen unüberschätzbare Konsequenzen hat. In seiner epochemachenden Abhandlung
Sein und Zeit
(1927) stellt er die Frage nach dem geschichtlichen Sinn von Sein ins Zentrum. Eine nicht natürliche, sondern geschichtliche Perspektive basiert auf der Einsicht, dass es nicht nur eine historische Abfolge von Weltbildern gibt, wie der Historismus behauptet. Vielmehr sind die Wirklichkeit und der Mensch selbst geschichtlich. Da menschliches Dasein endlich ist, muss alles, was in der Welt ist, unter dem Gesichtspunkt radikaler Befristung betrachtet werden. Geschichtlichkeit im Sinne von Befristung ist als Struktur des Daseins nicht objektivierbar, sie markiert vielmehr den Horizont alles Erlebens und Erfahrens, der sich in den Stimmungen der Furcht, Angst und Sorge artikuliert.
In der Herausarbeitung des Aspekts der Geschichtlichkeit ist die Nähe Heideggers zu den Untersuchungen Diltheys offensichtlich. Heidegger hebt denn auch hervor, dass Dilthey mit der Analyse von Selbst und Welt, die er auf eine gemeinsame Grundstruktur (Leben) zurückführt, die Richtung gewiesen habe. Aber er benennt sodann auch die entscheidende Differenz: Diltheys Analyse des In-der-Welt-Seins unter dem Aspekt der Geschichtlichkeit legt zwar, so Heidegger, den Grundcharakter menschlichen Daseins frei, verdeckt ihn allerdings zugleich, weil Diltheys ganze Absicht [99] auf die Rekonstruktion der Einheit einer geistigen Welt abzielt. Diese ist jedoch für uns verloren und ihre Rekonstruktion ist unsinnig. Die Gegenwart zeichnet sich durch eine Pluralität der Weltbilder aus, die sich in einem unaufhebbaren Kampf untereinander befinden. (Heidegger 1992/1993) Es ist demnach Aufgabe der Philosophie, sich diesem Kampf zu stellen und ihm nicht auszuweichen.
Trotz aller offenen Kritik an Husserl bleibt Heideggers Philosophieren auch Mitte der Zwanzigerjahre seinem Lehrer in der Phänomenologie verbunden. Das zeigt sich vor allem in dem Pathos der Wachheit, das den phänomenologischen Blick auch bei Heidegger grundiert, sich aber nicht mehr auf Fragen der Bewusstseinskonstitution und der Wissenschaftskonzeption richtet, sondern die Fundamente menschlicher Existenz erkundet und nach dem gemeinsamen »Grund« der Korrelation von Selbst und Welt fragt. Heidegger stellt folgende Frage: Wie ist eine Analyse des In-der-Welt-Seins unter dem Aspekt der Geschichtlichkeit des Daseins überhaupt noch durchführbar?
Um diese Frage zu klären, setzt seine Analyse mit der natürlichen Weltanschauung Husserls und einer Zurückweisung des cartesischen Dualismus ein. »Faktisch existierend sind wir immer schon in einer Umwelt.« (Heidegger 1975, 233) Die Schwierigkeiten liegen dort, wo wir die Differenz zwischen der jeweils eigenen Umwelt und einer gemeinsamen Welt wahrnehmen. Zwischen diesen Momenten besteht im besten Fall eine Korrelation, aber sicherlich eröffnen sie nicht die Möglichkeit einer Synthesis im hegelschen Sinn. In der Freilegung dieses prekären Zustands sieht Heidegger eine der »zentralsten Aufgaben der Philosophie«, insofern »der Begriff der Welt bzw. das damit bezeichnete Phänomen das ist, was bisher in der Philosophie überhaupt noch nicht erkannt ist« (Heidegger 1975, 234). In der Durchführung der phänomenologischen Analyse zeigt Heidegger, wie eng diese Korrelation gedacht werden muss. Da-Sein und In-der-Welt-Sein sind nichts anderes als ein Strukturmoment unserer [100] menschlichen Existenz. Das Sein des Menschen ist dadurch ausgezeichnet, dass es immer schon in der Welt ist und diese zugleich überschreitet. Denn als geschichtliches Dasein ist ihm aufgrund der strukturellen Endlichkeit respektive Befristung seiner Existenz die Dauerhaftigkeit der Welt und das scheinbar zeitlose Verweilen bei den Gegenständen fremd. Geschichtliches Dasein ist nicht bei
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