Philosophische Temperamente
des Denkens. Daß nun aber Bewußtsein in die Funktion des Grundlegenden gebracht worden war, das machte die Modernität des transzendentalen Ansatzes aus. Erst mit der Auflösung der bewußtseinsphilosophischen Grundstellung im 20. Jahrhundert ist das cartesische Universum ganz historisch geworden. Descartes’ Werk bleibt aktuell als Zeugnis für jene Verschränkung von Wissenschaft und Besinnung, die heute mehr denn je dem philosophischen Denken seine prekäre Würde verleiht.
PASCAL
Wer durch Autoren wie Goethe und Nietzsche erzogen worden ist zu einem Denken in Wahlverwandtschaften und Wahlfeindschaften über Epochen hinweg, für den präsentiert sich die Pascal-Renaissance des 20. Jahrhunderts als eines der stimmigsten Rezeptionsereignisse der jüngeren Geistesgeschichte. Vom Naheliegenden zum Notwendigen ist es nur ein Schritt, und es konnte nicht ausbleiben, daß die Denker des christlichen wie des nichtchristlichen Existenzialismus während der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts in Pascal die verwandte Seele witterten. Haben seine Verstimmungen nicht die unserer Zeit vorgenommen? War seine Melancholie nicht auch schon die einer aufklärungsmüden späteren Moderne? War seine Rede über den Menschen nicht schon kongenial mit der Selbsterfahrung einer Zivilisation, die in diesem Jahrhundert wie in keinem zuvor die Menschen das Fürchten gelehrt hatte: vor sich selbst wie vor der Entartung ihrer hochzielenden Projekte?
Wenn Pascal in einer unvergeßlichen Prägung vom Menschen als einem denkenden Schilfrohr sprach – wer hätte dies nicht als Emblem für unsere neuerlebte Zerbrechlichkeit verstehen müssen? Und wenn er vom Menschen
handelte als einem entmachteten König, wer hätte nicht an die soziopolitischen Großprojekte unserer Zeit gedacht und an das Ende der demiurgischen Überspannungen? Zu den Charaktermasken unserer Zeit gehören der entthronte Geschichte-Macher und der bloßgestellte Phyturg (Naturschöpfer) – zwei Figuren, die wie aus Pascals anthropologischen Sentenzen entstiegen scheinen. Pascals erstaunliche Zugänglichkeit – zumindest in manchen Partien seines Werks – läßt sich aber nicht nur darauf zurückführen, daß dessen protoexistenzialistische Töne projektive Aneignungen durch spätere Wahlverwandte leicht machen mußten.
Pascal kommt auch ins Blickfeld radikaler revisionistischer Interessen, denen es darum zu tun ist, das Gesamtverhängnis der platonisch-christlichen Ideengeschichte von vitalistischen oder subjekt-kritischen Grundstellungen aus dekonstruktiv zu überdenken. Nietzsche hat vorgemacht, wie dieses wahlfeindschaftliche Verhältnis gerade vor den Größten der alten Welt nicht haltmacht: Mit einer Kraft zur Vergegenwärtigung, die an Gewaltsamkeit grenzt, hat der Erzdekonstruktivist Nietzsche die Gründer der moralisierten metaphysischen Weltanschauung, Sokrates, Paulus und Augustinus, auf einem überepochalen Kampfplatz zum Duell gefordert. In diesem Kampf der Titanen wird Pascal als Mitkombattant aufgerufen, weil Nietzsche in ihm die höchste Wiederverkörperung
des augustinischen Genies auf neuzeitlichem Boden wahrnimmt. Pascal repräsentiert wie sein großer Vorgänger einen Typus von Intelligenz, der stolz genug ist, um für Demütigungen zugänglich zu sein. Erst von einer gewissen Höhe des Anspruchs an wird der Geist anfällig für die Erfahrung des Scheiterns an sich selbst. Von augustinischen Einsichten in die menschliche Gebrochenheit inspiriert, hat Pascal mit einer Neuvermessung des Umfangs von menschlicher Größe und menschlichem Elend begonnen. Nicht nur hat er hierbei die bis in aktuelle Diskurskonstellationen lebendige Korrelation von Erkenntnis und Interesse ursprünglich aufgedeckt, sondern er hat auch die Dialektik von Könnensteigerung und anschwellender Ohnmachtserfahrung klassisch exponiert. Er ist hierin, tiefer und diskreter als Descartes, zum Ahnherrn der Moderne geworden. Aber während Descartes seine Leser eher in morgendlicher Stimmung und in programmatischen Aufbrüchen anspricht, ist Pascal ein Autor für nächtliche Lektüren und ein Komplize unserer intim gebrochenen Nach-Gedanken.
Nietzsches hingezogene Aversion gegen den melancholischen christlichen Mathematiker stellt den Stärken dieses Autors ein so beredtes wie (in Grenzen) gerechtes Zeugnis aus. An Pascal entdeckt Nietzsche, was bei einem geistigen Menschen am höchsten zu schätzen ist: jenen Sinn für intellektuelle Redlichkeit, der sich auch gegen die
eigenen
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