Philosophische Temperamente
Interessen zu wenden vermag; fiat veritas, pereat mundus. Doch er bemerkt an ihm zugleich, worin er die größte Gefahr erkennt: die Neigung zum Miserabilismus und zum Sich-sinken-Lassen in eine affirmative Schwäche. Will der Nicht-Christ vom paradoxen Christen sich belehren lassen, dann vor allem dort, wo dieser sein letztes Wort über die condition humaine ausspricht: Hat nicht tatsächlich Pascal Nietzsches Theorem vom Willen zur Macht mit seiner Rede vom désir de dominer im 14. Provinzialbrief vorweggenommen?
Wenn es aber darum geht, für den Menschen der Zukunft die Möglichkeiten einer metaphysisch unvergifteten Selbstliebe zurückzugewinnen, dann ist Pascal kein Alliierter, sondern ein lehrreicher und schätzenswerter Gegner. Ein unverzichtbarer Verbündeter bleibt er für alle, die das Selbstverstehen der Selbstliebe vorangehen lassen wollen. Mit fast archaischer Heftigkeit verkörpert Pascal den Grundkonflikt der neuzeitlichen Welt: den Widerspruch zwischen dem operativen und dem meditativen Geist. Könnte das moderne Wissenschaftssystem so etwas wie Gewissen haben, Pascal müßte sein schlechtes Gewissen sein, denn sein Werk bezeugt, wie der scharfe und der tiefe Sinn vereint sein konnten. Zusammen mit Thomas Hobbes, mit Jean Baptiste Racine, mit John Milton steht Pascal als dunkle, von Bedenken zerklüftete Portalfigur am Eingang zur modernen Welt. Die Schatten seiner
Nachdenklichkeit hatten Zeit, über die Nachgeborenen zu fallen. Seine Paradoxe haben der französischen Literatur bis in die Gegenwart ihr Zeichen aufgeprägt; wenn noch Sartre darauf beharrte, sich zu mißfallen, um sich vom eigenen trägen Sosein loszureißen, oder wenn Michel Leiris sich zu dem Glück bekannte, sein Unglück auszusprechen, so bewegen sich solche Äußerungen und Haltungen in einem Raum, den Pascals generöse Dialektik mitgeschaffen hat. Wäre die Geistesgeschichte der letzten Jahrhunderte ein Bericht von den Konjunkturen des Absurden: Pascals Platz in ihr wäre für immer gesichert. Er ist der Erste unter den philosophischen Sekretären der modernen Verzweiflung.
LEIBNIZ
Seit dem frühen 19. Jahrhundert ist die öffentliche Wahrnehmung der Philosophie in Deutschland vor allem durch zwei Funktionsrollen oder Charaktermasken vorgeprägt: die des Universitätslehrers und die des freien Schriftstellers. Mit dem Deutschen Idealismus hatte eine Plejade von Professoren das Firmament der großen Theorie besetzt; nun besiegelten verbeamtete Idealisten im spätfeudalen Staat die prekäre Einheit von Thron und Philosophie. Mit Gestalten vom Rang Kants, Fichtes und Hegels gelangte der Typus des Ordinarius für Philosophie zu vorherrschenden Stellungen in der res publica der Gelehrten; Schellings gnostisierendes Theoriefürstentum gab ein Modell für späteres Kathederprophetenwesen. In scharfem typologischem und ideen-ökologischem Gegensatz hierzu entwickelten philosophische Schriftsteller, insbesondere in nachmärzlicher Zeit und im Wilhelminismus, neue Strategien zur literarischen und politischen Kommunion mit ihrem Publikum auf dem Weg über zeitgenössische Ideenmärkte. Als freie Schriftsteller taten Schopenhauer, Stirner, Marx und Nietzsche das Wesentliche zur Überbietung der Professoren durch die Philosophie der Autoren.
Blickt man durch die Gläser dieser typologischen Brille auf das Phänomen Leibniz zurück, so erscheint seine Gestalt seltsam ferngerückt und verfremdet. Der Leibnizsche Genius fällt, von den philosophischen Imagines und Suchbildern des 20. Jahrhunderts her betrachtet, in eine typologische Lücke, in der er nahezu unsichtbar wird – und wenn das zeitgenössische Denken sich mit dem Werk des Philosophen und Wissenschaftlers noch nicht wieder in ein überzeugend fruchtbares Verhältnis zu setzen gewußt hat, so vor allem deswegen, weil es den Typus Leibniz als solchen nicht mehr versteht.
Um Œuvre und Theorie-Temperament des großen Gelehrten zu dessen eigenen Bedingungen zu begreifen, ist es nötig, den typologischen Ort oder das Feld zu rekonstruieren, auf dem das Massiv Leibniz sich zu seiner monumentalen Höhe und Vielgestaltigkeit aufgefaltet hat. Im Leibnizschen Theoriefeld fließen zwei Prägekräfte zusammen, die weder von der professoralen noch von der literarischen Form des Philosophierens her angemessen zu erschließen sind. Die erste Matrix der Leibnizschen Wissenskunst ist die magische Universalwissenschaft der Renaissance mitsamt ihren barocken Weiterbildungen. Der Leibnizsche
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