Philosophische Temperamente
verausgabte sich Leibniz in zahllosen Vernunft-Ressorts. Wenn je der Begriff einer höfischen Philosophie sinnvoll war, dann in seinem Fall. Aus gutem Grund spielt im Werk dieses Philosophen-Diplomaten der Begriff der Perspektive eine tragende Rolle. Leibniz’ Heiterkeit vertritt eine Welt, in der die Kabinettskriege der Vernunft noch von einem unerschütterlichen Harmonievertrauen eingehegt werden konnten. Seine metaphysischen Abhandlungen verraten in ihrem disziplinierten Optimismus einen Autor, der sich mit der diplomatischen Vertretung des Seins beauftragt weiß. In seiner Theodizee verteidigt Leibniz nicht nur die Perfektion von Gottes Welt gegen Einwände, die seitens der menschlichen Unzufriedenheit gegen sie erhoben werden; mit dem brillanten Formalismus seiner Argumente bezeugt er auch die Vortrefflichkeit eines Zustandes, in dem Gott die Bestheit seiner Welt durch den besten aller möglichen Anwälte verteidigen lassen kann. Kompetente Tätigkeit nach allen Seiten: Dies ist nach Leibniz die gewisseste Art, in der menschlichen Beschränktheit Gott, den alltätigen Allesverknüpfer, nachzuahmen.
Indem Leibniz die menschliche Subjektivität durch endlos perfektionierbare kompetente und wissende Aktivität definiert, trägt er das Seine zur Formierung des neuzeitlichen Subjekts als Unternehmer des Seienden im Ganzen bei. Die Helligkeit und leidenschaftslose Freundlichkeit der
Leibniz-Welt gründet in dem Umstand, daß sich ihr Subjekt noch ohne Skrupel als Agent einer vernünftigen Gottheit in einem perspektivenreichen Universum voller erforschungswürdiger Rätsel bewegen darf. In nachleibnizschen Welten scheint die Loyalitätsbeziehung zwischen Subjekt und Sein zerstört, und mit dem Aufkommen der Existenzialismen, der Lebensphilosphien und der Systemtheorien ging der optimistische Reim zwischen subjektiver und objektiver Vernunft verloren. Die Subjekte finden sich seither in totale Kriege verschiedener Vernunftarten verwickelt; als Agenten stehen sie im Auftrag unbegriffener Majestäten. Für die künftige Geschichte der Menschheit wird es von Belang sein, ein Prinzip des Optimismus (oder zumindest ein Prinzip des Nicht-Pessimismus) mit nachleibnizschen Mitteln zu regenerieren. Falls dies gelänge: Wer wollte ausschließen, daß spätere Generationen in Leibniz einen ihrer wichtigsten Anreger finden werden?
KANT
Mit Immanuel Kants kritischem Werk beginnt jene Parallelaktion zwischen Französischer Revolution und deutscher Philosophie, die schon von den Zeitgenossen als epochale Konstellation bemerkt worden war. Tatsächlich vollzieht sich in beiden Bewegungen – wie in ihrer gemeinsamen Voraussetzung, der industriellen und geldwirtschaftlichen Revolution des 17. und 18. Jahrhunderts – der Durchbruch zu jenem bürgerlichen Zeitalter, das seither den Namen moderne Welt zu tragen verdient. Eine bürgerliche ist die Kantische Philosophie in mehrfacher Hinsicht: Sie ist zivil zunächst, weil sie die Emanzipation des philosophischen Denkens von der Bevormundung durch die Theologie der positiven und geoffenbarten Religion einklagt. Daran hat Kant mit existenzieller Konsequenz festgehalten: Wenn Lehrkörper und Studentenschaft der Königsberger Universität am dies academicus in feierlicher Aufstellung von der Aula zur Kirche zogen, um bei dieser Gelegenheit die Einheit von akademischer und religiöser Gemeinde vorzugeben, dann pflegte Kant vor dem Kirchenportal demonstrativ aus der Reihe zu treten und um die Kirche herum den Weg nach Hause einzuschlagen. Hier bedeutet Bürgerlichkeit: sich in der von
Vico aufgestellten Alternative zwischen monastischer und ziviler Philosophie auf die zivile Seite zu schlagen; wie ernst es Kant in dieser Sache war, zeigt sich nicht zuletzt in dem Umstand, daß er sich in Abkehr von überlieferten Formen mönchischer und schwärmerischer Transzendenz um eine bürgerliche Übersinnlichkeit bemühte; deren Fokus meinte er zu entdecken in jenem freien sittlichen Handeln des Individuums, das, weder durch Erfolg noch Hoffnung motiviert, das Richtige aus bloßer Achtung vor dem Sittengesetz tut – und aus Achtung vor sich selbst als dem vor allem übrigen Seienden ausgezeichneten Subjekt dieser Freiheit.
Kants Denken ist bürgerlich aus einem weiteren Grund: Es artikuliert sich auf der Grenze zwischen der akademischen Kommune und der allgemeinen Öffentlichkeit und appelliert noch in seinen technisch schwierigsten Teilen zumindest der Möglichkeit nach an den kritisch gewonnenen
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