Philosophische Temperamente
Universalismus, von einer romantisierenden Philosophiegeschichte irrtümlich zur Geniesache gemacht, bedeutet in Wahrheit den Ausfluß eines epistemologisch-magischen Ideals, das sich vom 15. Jahrhundert
an in zahlreichen kraftvollen Inkarnationen Geltung verschafft hatte. Das Phänomen Leibniz steht in typologischer Sukzession des Renaissance-Magus und des barocken Universalwissenschaftlers; unter seinen Vorgängern, die dem polyvalenten Wissensenthusiasmus der frühen Neuzeit Profil gaben, leuchten Namen auf wie Giovanni Pico della Mirandola, Girolamo Cardano, Giordano Bruno, Athanasius Kircher; auch Leonardo da Vinci gehört in das Verwandtschaftssystem dieser Alles-Könnenden, Alles-Versuchenden, Alles-Unternehmenden.
Es war die Aufgabe der frühneuzeitlichen Wissenschaftsentwicklung, diese »faustischen« Impulse, deren Wildformen in neuzeittypischer Scharlatanerie auslaufen, in institutionelle Bahnen zu lenken. Nicht zufällig gehörte es zu den wichtigsten Anliegen von Leibniz als Wissenschaftsorganisator, den Fortschritt der Erkenntnisse durch die Gründung von Akademien in überpersönliche Bahnen zu lenken. Wo Magie war, soll Polytechnik werden. Zwar wird die Zivilisierung des Universalismus durch Akademisierung schließlich die Fächerteilung und Spezialisierung nötig machen, aber in Leibniz persönlich bleibt die Macht des älteren magischen Enzyklopädismus diskret, doch ungebrochen am Werk. Es spricht für seine Erfolge als Impulsgeber für moderne Wissenschaftsorganisationen, daß schon bald nach seinem Tod die Nachwelt ihn selbst als Temperament und Typus kaum noch verstehen konnte.
Als letzter, glänzendster und kühlster der faustischen Doktoren hat er dem Siegeszug einer nicht-faustischen Wissenschaft den Weg geebnet.
Aber das typologische Rätsel Leibniz erschöpft sich nicht mit dem Hinweis auf seine souveräne Position in der ausklingenden Geschichte des philosophisch-wissenschaftlichen Enzyklopädismus; es deutet nicht nur auf die Lage des philosophischen Gedankens vor der Ausdifferenzierung der Wissenschaften. Von modernen Philosophie-Konzepten aus ist Leibniz auch deswegen schwer zu begreifen, weil der größte Teil seiner intellektuellen Aktivität sich in vormodernen oder halbmodernen Kontexten entfaltet hat. Nicht ohne Hintersinn zeigen die Leibniz-Porträts der offiziellen Philosophiegeschichten den Denker in der höfischen Prunk-Perücke. Dieses Detail seines physischen Habitus illustriert recht verbindlich seine Stellung auf dem Theorieparkett seiner Zeit. Leibniz ist in der Tat der Hof-Intellektuelle par excellence, und dies nicht nur in okkasioneller und opportunistischer Funktion, wie etwa bei Descartes, der der schwedischen Königin Christine einige Monate lang als Konversationspartner zur Verfügung stand, oder bei Voltaire, der mit Friedrich von Preußen und Katharina der Großen korrespondierte. In Leibniz verdichtet sich eine heute weithin vergessene Phase in der Geschichte der europäischen Intelligenz. Sein intellektuelles Rollenspiel ist durchwegs das des argumentierenden
Diplomaten, des Theorie-Höflings, des Kameralisten und Fürstenberaters, des Respondenten und Korrespondenten. Man kann von den für Leibniz charakteristischen geistigen Exerzitien kaum etwas nachvollziehen, wenn man sich nicht an die wie auch immer problematischen höfischen Allianzen von Macht und Geist erinnert, die seinem pragmatischen Wirken zugrunde lagen. Leibniz ist der Fürst der Fürsten-Consultanten, höchstes Exemplar einer vergessenen Sekretärskunst, die zwischen den Herren der Territorialstaaten und ihren Doktoren seltsame theoriegesättigte Beziehungen wob. In diesem Kontext erst werden die Züge im Leibnizschen Aktivitätsprofil verständlich, die zu keinem späteren Philosophenklischee stimmen wollen: Leibniz der Projektemacher und Ideeneinflüsterer für kleinstaatliche Außenpolitik, der Prozeßführer und Reisende in Sachen fürstlicher Herren, der Verfasser von Memoranden und Plädoyers in verwickelten juristisch-politischen Affären, der Legitimist und Historiograph in Angelegenheiten des Hauses Hannover.
Nur durch die Koinzidenz dieses höfischen Intellektuellen und Vieltuers mit dem barocken Universalgelehrten konnte der spezifische Leibniz-Effekt zustande kommen – jenes Wunderwerk an geistiger Polyathletik, in der sich der glücklich rastlose, könnenssüchtige, in vielen Zentren konzentrierte Intellekt des Denkers nach allen Seiten auswirkte.
Wie ein Sonnenkönig des Denkens
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