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Philosophische Temperamente

Titel: Philosophische Temperamente Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Sloterdijk
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Konsensus, der sich aus dem Gespräch der Verständigen über öffentliche Gegenstände ergeben soll. Wenn Kant als Schriftsteller hervortritt, so tut er dies in der aufrichtig naiven Erwartung, daß sich die Urversammlung der bürgerlichen Gesellschaft um das profane Buch auch bei der Aufnahme seiner Schriften wiederholen wird. Hier nimmt Bürgerlichkeit den Sinn von gelehrtem Republikanismus an. Kants geschichtlicher Augenblick ist daher nicht nur die Geburtsstunde der bürgerlichen Gesellschaft
im politischen Sinn; sein Werk fällt zugleich in das goldene Zeitalter der Gutenberg-Ära; es hat an deren Geniezeit Anteil, indem es dokumentiert, wie sich das Selberlesen der Reformation zum Selberdenken der idealistischen Klassik entfaltet hat.
    Noch in einem dritten Sinn ist das Denken Kants durch eine fundamentale Bürgerlichkeit bestimmt: Kant begreift die Stellung des Menschen in der Welt weder als Kosmopolitie im Sinne der antiken Weisheitslehren noch als Geschöpflichkeit unter Gott im Sinne mittelalterlicher Theologie: Der Kantische Mensch ist von Grund auf Gattungsgenosse und insofern Weltbürger. Die Kantische Welt-Polis freilich ist nicht, wie die antike, das Resultat einer Übertragung städtischer Ordnungsvorstellungen auf das Weltall; sie entspringt vielmehr aus der Anwendung des Freiheits- und Selbstbehauptungsgedankens auf die Gesamtheit vernunftfähiger Wesen, also das Menschengeschlecht in jenem universalen oder globalen Umfang, wie es Europäer nach dem Zeitalter der Entdeckungen und Kolonisierungen zu konzipieren genötigt waren. Darum gerät Kants Weltbürgertum zur Fortführung der christlichen Heiligkeit mit Mitteln des bürgerlichen und des Völkerrechts. Er fordert von jedem vernünftigen einzelnen, sich nicht nur als nützliches Glied seiner Nationalgesellschaft zu betätigen, sondern sich auch und vor allem als Funktionär der vernunftfähigen Gattung zu bewähren; deren
künftige politische Lebensform zu finden, schwebt den Vernunftwilligen wie eine unendliche Aufgabe vor. Die Kantischen Weltbürger sind Heilige im Gehrock, und wie ihre Vorgänger in den römischen Arenen sollen sie auch im modernen Staatenzirkus ihr Leben an die Verwirklichung des Vernunftreichs setzen. Nicht zufällig fand man unter Neokantianern auch logische Sozialisten und logische Theokraten – die Heiligen-als-ob der modernen Welt. Sie sind die Athleten der vernünftigen Koexistenz mit allen übrigen Mitgliedern der Gattung. Die Pax Kantiana faßt die Weltgesellschaft der Vernünftigen gleichsam wie in einer minimalistischen Kirche zusammen. Es ist dies die Kirche der mündigen Subjekte, die ihre kritischen Theorien wie Bekenntnisse vortragen. Bei Kant schwelt unter der skeptisch-humanen Asche eine vernunftfundamentalistische Glut. In seiner Zivilreligion sollen Heilige zu Juristen und Helden zu Parlamentariern werden.
    Schließlich ist von Kants Bürgerlichkeit in einer vierten Hinsicht zu reden: Kant ist Mitbegründer einer neuen philosophischen Gattung, der Anthropologie, deren Aufgabe es ist, von bürgerlicher Höhe aus über die vor- und außerbürgerlichen Grundlagen des Menschseins zu reden: Sie handelt vom Menschen in seiner gattungshaften Bestimmtheit und seiner naturhaften Verfassung. Anthropologe sein heißt seit Kant, den Menschen nicht mehr direkt durch das Unmenschliche, das Tier, und das Übermenschliche,
den Gott, zu deuten. Anthropologie modernen Stils wird erst möglich, seit sich verdeutlicht hat, daß der Mensch jenes hyperbolische Haustier ist, das sich, sofern es Vernunft annimmt, selber um seine Züchtung zu kümmern hat. Es kann nicht länger durch eine angebliche Zucht Gottes oder ein vermeintliches Diktat einer unmittelbaren Natur bestimmt werden – es ist, um es anachronistisch zu sagen, zur Selbsterziehung verdammt. Dies gilt um so mehr, als sich auch und gerade im emanzipierten Menschen die Anlagen zum radikal Bösen finden. Für Kant ist der Paternalismus Gottes so unerträglich wie die Zudringlichkeit der eigenen Triebnatur, und das tätige Sichfreimachen nach beiden Seiten stellt nach ihm erst den Menschen in die bürgerliche Mitte als den Ort der Freiheit: Nirgendwo anders kann sich das Individuum seiner Berufung zu spontaner Selbstformung erfolgreich hingeben.
    Kants Leidenschaft ist die Rückführung der Leidenschaften auf bürgerliche Maßverhältnisse und die Aufhebung aller Überwältigungen in rastlose Selbstbehauptung. Darin ist er der maßgebliche Denker der Moderne, sofern

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