Philosophische Temperamente
breitet sich der Schleier der dogmatischen und ontologischen Verblendung aus. Wer im Bann dieser todbringenden Selbstverkennung lebt, würde wohl, nach Fichtes Worten, leichter dahin zu bringen sein, sich für ein Stück Lava vom Monde als für ein Ich zu halten.
Mit Fichtes unnachgiebiger Intervention bricht ein folgenschweres Dilemma der moralkritischen Kommunikation in modernen Gesellschaften auf: Wie soll die Verständigung zwischen lebendigen Lebenden und lebenden Toten gelingen? Wie können sich überhaupt die Nicht-Entfremdeten zu den Entfremdeten hinwenden? Ja, müssen nicht immer die Lebenden an den unbekehrbaren Toten verzweifeln? Von den Tagen der frühen Philosophie an gab es in Europa keine Gesellschaft, die nicht hätte fertig werden müssen mit den Provokationen einer Elite von eigentlich Lebenden und Verstehenden. Der Bürgerkrieg zwischen dem philosophischen Geist und dem gemeinen Verstand ist eine Konstante der alteuropäischen Geistesgeschichte.
Aber wo die antiken Weisen sich in Resignation hüllten vor der unwandelbar blöden Menge, müssen die modernen, als Aufklärer, zum pädagogischen Angriff übergehen. Bei Fichte erreicht der Fundamentalismus der bewußten Lebendigkeit prinzipielle Schärfe.
Tatsächlich stellt sich unter dem erleuchtet bösen Blick des Philosophen zum ersten Mal die gesamte Gesellschaftssphäre als entfremdete Welt dar – bevölkert von Wesen, denen durch ihren Irrglauben an das autonome vorgängige Sein der Dinge die Wurzeln ihres Freiseinkönnens abgeschnitten sind: Der entfremdete Mensch verbringt seine Tage als Sklave seiner Unterwerfung unter ein vorgeordnetes Massiv aus Tatsachen. Für ihn ist das unabhängige Ding der Herr; wo das Ding herrscht, ist der Tod an der Macht. Die Wissenschaftslehre jedoch – samt ihrem moralischen Supplement: der Anweisung zum seligen Leben – ist die logische Posaune, die zur Auferstehung aus den Gräbern des Objektivismus bläst. Wer sie verstehend hört, kann sich aufschwingen zur Parteigängerschaft der Freiheit. Das auferstandene Subjekt wird den Drang verspüren, sich freiwillig zu melden für den Feldzug der moralischen Moderne, durch den das Ancien régime innerer und äußerer Menschlichkeitsbehinderungen endgültig umgestürzt werden soll; an dessen Stelle soll und muß ein auf Erden noch nie verwirklichtes Reich der vernunftgeleitenden Freiheit treten. Die Zukunft, wie der Idealist sie
projektiert, wird moralisch und vernünftig sein, oder sie wird nicht sein. Für Fichte duldet es keinen Zweifel, daß die logisch-moralische Auferstehung der Subjekte und die politische Revolution des Gemeinwesens konvergieren. Nach seiner Überzeugung muß das Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit und des mutwilligen Ausharrens aller Irrtumsträger in ihren Stellungen ebenso zu einem Ende gebracht werden können wie die überholte Feudalverfassung der Gesellschaft, die in der Französischen Revolution ihren verdienten Untergang erlebt hatte.
Als Entdecker der entfremdeten Subjektivität steht Fichte am Beginn einer Ära gewaltiger philosophischer Emanzipationsprojekte, mit denen die große Politik der Eigentlichkeit auf den Plan gerufen wurde: Wo Entfremdung war, soll Eigentlichkeit werden – sei es die Eigentlichkeit der politischen Kommune, die sich selbst durchleuchtet und regiert, sei es die Eigentlichkeit Gottes, der sich in überfließenden Lehrern und moralischen Unternehmern durchprägt. Verwende dich selbst für die Hervorbringung einer besseren Welt: So lautet der kategorische Imperativ des Idealisten. Tatsächlich, wo auch immer die Hoffnung sich am Leben hielt, moderne Gesellschaften könnten, ihren systematischen Eigengesetzlichkeiten zum Trotz, schließlich doch so etwas wie eine vernünftige Identität ausbilden, war stets Fichte als expliziter und implizierter Alliierter mit im Bunde. Im Rückblick auf das Zeitalter der
großen moralischen Politik erkennen wir freilich, wie solche hoch gespannten Hoffnungen die Menschheit in einen gewaltträchtigen Zyklus von Enthusiasmen und Desillusionierungen hineingerissen haben. Es hat den Anschein, als seien wir nach alledem nicht zur Freiheit verdammt, sondern zur Abklärung unserer Illusionen von der Reichweite der Freiheitsträume. Wenn sich unsere Zeit – zu Recht oder zu Unrecht – vielerorts als eine Epoche nachmetaphysischen Denkens beschreibt, dann nicht zuletzt deswegen, weil wir im Andenken an den zweihundertjährigen Prozeß heroischer Freiheitsphilosophien
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