Philosophische Temperamente
diese das Zeitalter war, das es lernen wollte, sich in zivilisierter Endlichkeit einzurichten. Nicht umsonst lautet eines der Grundworte von Kants Denken: Grenze. Nach Kant nennt sich jenes Denken ein nachmetaphysisches, das Wege kennt, die Metaphysik nicht auszustreichen,
sondern zu ersetzen. Tatsächlich eröffnet die moderne Welt das Zeitalter der Ersetzbarkeit – um aktuell zu reden: der funktionalen Äquivalenzen. Kants eigener Ersatz der Metaphysik hat Züge von einem klugen Geschäft: Statt als ungewisser Vasall des Absoluten an scheinhaften Reichtümern teilzuhaben, entschied sich der Königsberger Meister dafür, als Hausherr eigenen Rechts ein Vermögen aus Abklärungen zu verwalten. Dies wurde zuweilen als Resignation vor höheren Ansprüchen mißverstanden; doch im Kern von Kants Antrieben spielen resignative Züge keine Rolle. Sein Kompaß zeigt unbeirrt auf Souveränität, und wie ein weiser Geschäftsmann, der sein Vermögen in der Krise umstrukturiert, zieht Kant seine Einlagen aus den kreditunwürdig gewordenen Unternehmen der Metaphysik zurück, um sie in die solideren Geschäfte erhöhter Deutlichkeit zu investieren. Sich in einer Welt voller Enteignungsgefahren des eigenen Verstandes wie eines unentäußerlichen Vermögens zu bedienen: Mit diesem Motto bekundet Kant seinen Elan, sich gegen alle Verführungen zur Gedankenarmut und Depression auf das Abenteuer der Deutlichkeit einzulassen.
FICHTE
Daß die Philosophie etwas sei, was ohne eine Erweckung des ganzen Menschen zu ihr ein unfruchtbares Unternehmen bleibe: Es gibt unter den Philosophen der Neuzeit – von Martin Heidegger abgesehen – keinen, der mit solchem Ungestüm und in solcher Grundsatz-Tiefe diese Einsicht gelehrt hatte wie Johann Gottlieb Fichte. Nach ihm gelangt niemand in den Brennpunkt des wesentlichen Denkens, der nicht in einem existenzverwandelnden Umschwung sich von seinem bisherigen Glauben an die Übermacht der Dinge vor ihm und außer ihm losgerissen hätte. Du mußt dein Leben ändern: Dies ist der Cantus firmus allen Denkens im Zeichen der modernen Freiheitsidee. Sich ändern aber heißt vor allem: darauf verzichten, sich durch die Umstände zu erklären. Fichte hat vorgemacht, was es heißt, im bürgerlichen Zeitalter ein Lehrer des Idealismus zu sein. In seinen Reden und Schriften entfaltet sich, wortgewaltig, unterscheidungsmächtig und mit fanatischer Loyalität gegenüber einem steilen Grundgedanken, die neue Lehre von der allesverwandelnen Würde der Subjektivität. In der Macht ihres Vortrags illustriert Fichtes Doktrin die Tateinheit von Analyse und Appell, von Argument und Initiation. Als Logiker war Fichte immer
auch Psychagoge, als Theoretiker immer auch Agitator und Exerzitienmeister. Der Schöpfer der Wissenschaftslehre hinterließ der Nachwelt den irritierenden Impuls eines argumentativen Prophetismus; er schuf damit das grelle Gegenbild zu jenem lethargischen oder sportlichen Rechnen mit Problembeständen, das seit dem 19. Jahrhundert untrennbar ist von dem entgeisterten Betrieb der hohen Schulen.
Mit dem Hinweis auf Fichtes appellatives Genie ist also mehr gemeint als die Erinnerung an das nationalpädagogische Bravourstück der Reden an die deutsche Nation, die der Philosoph in Berlin bei persönlicher Lebensgefahr unter den Augen der französischen Besatzungsmacht gehalten hatte. Er trat in diesen Reden mit dem epochalen Selbstbewußtsein eines Mannes hervor, der zu wissen schien, daß gegen einen Weltgeist zu Pferde nur ein Weltgeist am Rednerpult Abhilfe zu schaffen vermag. War Bonaparte als Gründer eines bürgerlichen Kaiserreichs auf der Weltbühne erschienen, so setzte Fichte auf der Bühne der Ideen seine Geisterreichsgründung dagegen. In dieser Antithese haben manche bis heute nachwirkenden Klischees vom Wettstreit zwischen französischen Materialisten und deutschen Idealisten ihren sachlichen Grund. Fichtes Rufer-Amt, von ihm selbst zugleich entdeckt und gerechtfertigt, wurzelte in dem Prinzip seiner Philosophie selbst, wonach die Ergreifung der Freiheit nicht weniger
bedeutet als eine Auferstehung von den Toten – jenen Toten, die wir nach Fichtes Meinung immer schon sind, solange wir, benommen vom Schein des objektiven unabhängigen Seins vor uns, im Götzendienst der äußeren Wirklichkeit dahinleben. In den Augen des wütenden Freiheitslehrers ist die bürgerliche Welt in ihrer Ganzheit ein Totenreich: Denn über den Gedanken, den Motiven und den Werken der größten Mehrheiten
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