Philosophische Temperamente
irregeworden sind an der moralprophetischen Kompetenz gewaltbereiter Meisterdenker. Gewiß: Es wäre übertrieben, den großen Philosophen die Schuld an den Debakeln der Moderne aufzubürden. Dennoch soll geprüft werden, was wahr ist an dem Verdacht gegen alles Großdenkertum, der mit der These auftritt: Wer im technischen Zeitalter Illusionen sät, wird Weltkriege ernten. Die Epoche der Ideologien oder säkularen Religionen geriet für uns in der Tat zu einer Ernüchterungsschule: Das manische Privileg der großen Geschichtsphilosphie, die Weltbewegung allein am Kompaß von Vernunft und Freiheit orientieren zu wollen, hat sich an der Macht der Umstände gebrochen. Darum muß eine erneuerte analytische oder dekonstruktive Vorsicht, gleich ob sie psychologische oder zeichenkritische Wege verfolgt, ihre Folgerungen ziehen aus dem
Scheitern jener Ideologien, die als weltmächtig gewordene Enthusiasmen in die Unheilsgeschichte der Moderne verwickelt sind. Diese teuer erkaufte Skepsis – man könnte sie postillusionistisch nennen – darf rechtens auch Fichtes Werk und Ruf umgreifen, denn er ist der wirkliche Urheber des erhabenen Trugschlusses, daß das Leben der menschlichen Gattung nach einem festen Plane vorrücke, der sicher erreicht werden wird, weil er erreicht werden muß und soll. Fichtes fortwirkende Bedeutung – er selbst wäre vor dem Ausdruck Unsterblichkeit gewiß nicht zurückgeschreckt – liegt also nicht auf dem geschichtsprophetischen Felde. Die von Fichte postulierte notwendige Einheit von Vernunft, Moralität und Weltlauf beeindruckt von den Heutigen keinen mehr. Auch haben wir uns unendlich weit entfernt von dem idealistischen Opfer-Habitus, die Person als Medium einer überpersönlichen Vernunft zu verbrauchen. Fichtes Größe wird sich vor allem denen zeigen, die die Geduld aufbringen, sich in seine unüberbietbar luzide Analyse der Strukturen von Subjektivität zu versenken. Erst nach Fichte konnte die Frage, wie es überhaupt ist, ein Ich zu sein, zu einer Provokation des wesentlichen Denkens werden. Daher bleibt Fichte ein unwillkürlicher Verbündeter all jener, die auch unter dem Eindruck der voranschreitenden technologischen Reform aller Begriffe von Welt und Leben sich an der Nicht-Gleichgültigkeit der Tatsache, daß ich mich als Ich erleben kann,
orientieren wollen. Gerade wenn die Überspannungen der Lehren von autonomer Subjektivität überwunden sind, leuchtet das Rätsel der Möglichkeit von Ichheit im zerstreuten Weltganzen erst recht deutlich auf. Der Glanz dieses Rätsels wird für immer auch etwas vom Licht Fichtescher Intelligenz behalten. Fichtes Ich ist eine Handlung, die eine moralische Lehre freisetzt: Wo das Ich sich erlebt, bedeutet es die Unmöglichkeit, armselig zu sein. Auch unter der Annahme, daß Gott ein sinnloser Begriff ist, fließt aus der mit Fichtes Mitteln beschriebenen Ichheit ein unabsehbar folgenreicher existenzieller Impuls. Ich soll das Faktum meines Daseins als ich selbst so leicht und so schwer nehmen, als wäre mein Ichsein Gottes letzte Gelegenheit.
HEGEL
Daß man am Ende sein muß, um die Wahrheit sagen zu können – diese Überzeugung ist dem Werk Hegels allenthalben wie ein unzerreißlicher Faden eingewoben. Mit ihr hat Hegel das Grundmotiv von Platons Erkenntnislehre zu monumentaler Höhe geführt: Erkennen heißt sich erinnern; begreifen meint rekonstruieren. Der Denker, dessen System nicht ohne gute Gründe als Vollendung der abendländischen oder christlich-platonischen Metaphysik bezeichnet wurde, ist seinem Wesen nach selbst der Metaphysiker der Vollendung. Nach Hegel heißt philosophisch denken die Ernte des Seienden nach Hause bringen; schlechthin nach Hause kommt jedoch nur, was sich im Ganzen heimisch machen kann: der Geist. Bei Hegel nimmt dieser Geist sich Zeit; er hat und macht Geschichte; über Schädel und Stufen geht er in die letzte Häuslichkeit ein, bei sich selbst; der Wein der Wahrheit wird aus Spätlesen gewonnen. Hegels typische Zeiten sind darum Herbst und Abend, seine bevorzugte Denkfigur ist der Schluß, seine innerste Farbe das nachtnahe Grau. Unter seinem Blick wird jede Gegend ein Abendland, jede Ansicht muß zu einem Schlußtableau geraten. Das terminale Wissen entsteht in vorgerückter Stunde, wenn sich der Begriff vom
Erlebnis löst, um sich in Bilanzen für die Ewigkeit aufzustellen. Gelebt haben ist alles. Ein gutes wird das zu Ende gelebte Leben gewesen sein, wenn das Hintersichhaben des Lebens gleichbedeutend
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