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Philosophische Temperamente

Titel: Philosophische Temperamente Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Sloterdijk
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des gewalttätigen Korsen mit dem seinen zu verbinden; tatsächlich steht über den Namen beider – trotz gewichtiger Differenzen zwischen dem französischen Empire und dem Hegelschen Preußen – ein gemeinsames Vorzeichen: der Durchbruch zum vollbrachten Verfassungsstaat. In weltgeschichtlicher Auffassung reimen sich Code civil und Rechtsphilosophie aufeinander. Die Art und Weise, wie hier die Eigennamen Hegels bzw. Napoleons im Finale der hoch greifenden Erzählung vom guten Ende der Geschichte aufscheinen, macht augenfällig, wie sich nach Hegels Logik das einzelne mit dem Allgemeinen versöhnt: Indem sie sich ganz in ihren scheinbar eigenen Missionen erschöpfen, spielen die großen einzelnen ihre Rolle im Heldenepos des universalen Freiheits- und Wahrheitsgeschehens; indem sie in der Arena des zeitgemäßen Handelns und Denkens ihre Kräfte bis zum äußersten anspannen, verwandeln sich die einzelnen in Kristalle des Absoluten; ihr Leben wird hell unter einem Himmel höchster Bedeutungen. Bedeutend sein heißt hier: als Zufälliges sich einen notwendigen Platz im
Ganzen erobert haben. Immer ist der eminente Mensch ein Arbeiter im Weinberg der Vollendungen. Hegels Lehre vom großen Menschen gibt die Essenz seiner Theologie der Besonderheit wieder; sie ersetzt den Schwertadel des Feudalzeitalters durch einen Sinn-Adel für die philosophisch-bürgerliche Geschichtsschreibung. Wie nach johanneischer Tradition das Wort Fleisch geworden ist, um Gott mit der Welt zu vermitteln, so wird in Hegels Lehre vom Besonderen der Weltgeist Individuum und wohnt unter uns – warum eben nicht in Gestalt von Feldherren, Klassikern und Professoren? Um so besser für die Zeitgenossen, wenn sie deren Herrlichkeit zu Pferde oder auf der Lehrkanzel wahrzunehmen imstande sind – die Buchmessen nicht zu vergessen, auf denen sich auch alles um das Erscheinen dreht. Ganz wird das große Individuum von Bedeutsamkeit durchleuchtet; es verglüht ohne Rest in seiner historischen Aufgabe, um nur noch Figur in ihrer Konstellation zu sein. Wenn das kleine Individuum unaussprechlich bleibt, weil von ihm – nach Abzug seiner werklosen Geltungswünsche – nichts von Belang zu sagen ist, so verwandelt sich das große in pure Ausgesprochenheit. Es wird ganz Werk, entäußerte Gestalt, reine Kreuzung von Kraft und Augenblick. Es hebt sich auf in den Verklärungsleib seiner Taten und Gebilde.
    Man darf die Wirkungen des Hegelschen Denkens im unverkürzten Sinn des Wortes ungeheuer nennen. Es hat
Schule gemacht und Gegenschule; die Instinkte der Bewahrung hat es ebenso provoziert wie die der Revolte. Sein unentscheidbares Schweben zwischen Verflüssigung und Feststellung aller Dinge hat es Revolutionären wie Sklerotikern erlaubt, sich überzeugend auf Hegel zu berufen. Wenn man in Lenins Hirn Umsturzideen und Verkalkungen fand, so stammte beides aus meisterlichem Erbe. Schon bei Hegel selbst, zumal in seinen Berliner Würden, wurde nie recht klar, ob alles fließt oder alles sich gesetzt hat. Neben den Ordnungsdenkern, die Hegels Reich wie eine konstitutionelle Monarchie erben wollten, traten erregte Chöre von gelehrten Unzufriedenen auf die Bühne, die sich dagegen auflehnten, den Rest ihrer Tage als Pensionäre des vollendeten Idealismus zu verbringen.
    Seit Hegel kann geleugnet werden, daß die Geschichte im wesentlichen zu Ende sei. Vieles bleibt in der Welt zu tun – das wird zum Schlachtruf nachhegelscher Vernunftpolitik; es gibt noch Ungesagtes im Haus des Selbst – das wird zum Leitwort nachhegelscher Diskursschöpfungen. Noch wollen neue tanzende Sterne geboren werden, von denen keine Retrospektive etwas weiß. Ein vorwärtstreibendes Interesse am Unerledigten erwacht; das Unerlöste, Unbefreite meldet seine Ansprüche auf kulturelle und philosophische Berücksichtigung an. Versöhnung will nun viel umfassender gedacht werden, als je ein Idealist sich einfallen ließ. Alles Denken, das sich auf Hegelsche
Weise nach Hegel datiert, bekundet ein Interesse daran, die Vollendung zu vertagen, bis auch den vorerst unversöhnten Größen Recht widerfahren wäre – sei es das Proletariat, seien es die Frauen, seien es der Leib, die Erde, der Wahnsinnige, das Kind, das Tier. Jedes dieser Themen ist Subjekt eines spezifischen Millenarismus geworden. Das Spiel von Vollendungsleugnung und Versöhnungsaufschub im Namen einer unerlösten Gruppe prägt die Ideenkämpfe des 19. und 20. Jahrhunderts, auf dem marxistischen Flügel wie auf dem

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