Philosophische Temperamente
ist mit dem Durchdringen des Geistes zum Vollbesitz seiner selbst. Solches Streben nach Einkehr in die Fülle zeigt an, daß auch Hegels Geist, bei aller neu gewonnenen Offenheit für das Werden, auf eine Zeit nach dem Ende der Zeiten aus ist.
Bedeutet das Werden eine Schule, muß diese doch zu einem Abschluß führen; ist es Prozeß, so kann in ihm der Moment des Urteils nicht ausbleiben. In diesem Sinn ist Hegel der Denker der Reife; seine Phänomenologie wie seine Enzyklopädie bieten Programme für eine Vernunft, die ein bestimmtes Curriculum zu durchlaufen hat. Nur im Namen von Maturität lassen sich der historische und der metaphysische Sinn auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Wenn sich der Geist auf seine Ausbreitung durch die Zeiten einläßt, so nur, um durch sie hindurch zur Endzeit und Überzeit zu reifen. Unsere Anhänglichkeit ans Vorläufige soll vergehen, bis sich alles in Asche und Wissen verwandelt hätte. Bei Hegel kommt das Geheimnis der klassischen Philosophie an den Tag, daß metaphysisch zu denken immer schon in Vollendungen zu denken bedeutet hat. Hegel besaß den Mut, die Frage nach dem Wann der Vollendung selbstbezüglich zu beantworten; seine Auskunft heißt: jetzt. Durch Dialektik bekommt Grandiosität
Methode. Kraft seines Systems meinte sich Hegel ins zeitlose Herz der Zeit hineingedacht zu haben. Der Geist, der durch sein Werk redet, hat Grund gefunden für die These: Meine Zeit ist reif; der Weltprozeß ist im Ganzen aktenkundig geworden; zu vollenden ist heute, was ich einst, als ich im Osten aufging, begonnen habe. Wo Leidenschaft war, ist Archiv geworden. Alles frühere Denken erscheint, von Hegels spätem Jetzt her gedacht, als vorbereitend und weiterführend, um den Geist für sich selbst als das Absolute zu qualifizieren. Ist der Augenblick der Wissensvollendung da, teilt er die Zeiten in ein Bisher und ein Jetzt-und-Immer. Das Jetzt-sein-Können ist eine Funktion des Am-Ende-Seins. Wo aber, durch Hegel, die Metaphysik sich in so hoher Erfülltheit ausspricht, wird sie auch reif für Befragungen durch Geister des Widerspruchs: Können denn bloße Menschen, können endliche Intellekte in irgendeiner belangvollen Weise am Ende sein? Können sie mit Gründen, die mehr wären als überhöhte Anmaßungen, von sich behaupten, daß sie selbst das Ende anzeigen und verkörpern?
Es macht den Zauber und den Schrecken der Metaphysik Hegelschen Typs aus, daß sie diese Fragen noch resolut mit Ja zu beantworten die Kraft fand. Dieses Ja zerteilt die Menge der Sterblichen in Teilhaber und Nicht-Teilhaber an der Vollendung; diese Einteilung der Menschheit läßt sich weithin gleichsetzen mit der von Individuen,
die Hegel verstehen, und solchen, denen das nicht gelingt. Hegel und die Seinen wären folglich jene, die an der Wissensvollendung teilhaben. Sie wären endliche Stützpunkte des zu sich durchgedrungenen Unendlichen geworden, geborgen im endlosen Ende der Geschichte. Mögen auch die meisten Sterblichen am Vorläufigen haften und ihr Dasein in Trübungen und im Eigensinn ausvegetieren: Für den Vollendungsphilosophen steht außer Zweifel, daß der Selbstbegreifungskreis des Geistes sich in erhöhten einzelnen zu schließen vermocht hat. Solche Ausnahmen von der kleinen Menschennorm heißen unter Hegels Perspektive rechtens welthistorische Individuen, sofern sie Funktionäre und Subjekte der Welt- und Wissensvollendung sind. Unter dem Gesichtspunkt des Vollbringens und Vollendens gehört der große Denker mit dem großen Täter intim zusammen. In einer Traumszene seines »Wintermärchens« beschrieb Heinrich Heine eine vermummte Gestalt, die dem Dichter mit einem Beil in Händen auf dem Fuß folgte: Zur Rede gestellt, gibt diese Figur ihre Identität mit den Worten preis: »Ich bin die Tat zu deinen Gedanken.« Hegel hätte, im Traum wie in Wirklichkeit, dem Eroberer und Gesetzgeber Napoleon gegenübertreten können mit dem Satz: Ich bin der Gedanke zu deiner Tat. Das meint nichts Geringeres, als daß die politische Weltgeschichte »in der Hauptsache« durch die Etablierung des nachrevolutionären bürgerlichen Rechtsstaates in ihr
Ende eingelaufen sei. In diesem wäre die Durcharbeitung des Geistes zur Freiheit aller bis zur vollendeten Tatsache gediehen; die Anerkennung aller durch alle wäre formal durch den Eintritt aller in den Status von Staatsbürgerschaft vollzogen. Offenbar war Hegel dazu bereit, in dem Maße, wie diese Errungenschaft mit Eigennamen zu bezeugen war, den Namen
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