Philosophische Temperamente
existenzialistischen – um nur die beiden mächtigsten Nachhegelianismen zu erwähnen. In all diesen Unternehmen wurde die Stunde der Erfüllung bis zu einem späteren Zeitpunkt suspendiert – die Geschichte selbst wurde zu einem Kampfspiel für Nachforderungen. Alle Junghegelianer sind ontologische Irredentisten. Zuviel Krankheit, zuviel Entfremdung zerklüften die Welt, als daß sich die mitgekränkte, mitentfremdete Intelligenz dem erleuchteten Feierabend hingeben dürfte. Schließlich mußte die Partie der Kritik gegen die Vollendungsbehauptung bis an den Punkt getrieben werden, wo das Motiv Vollendung selbst zerrüttet wurde. Die moderne Welt begreift sich als die wesenhaft Nie-Vollendete, und ihre Theorie muß sich dazu bequemen, ihr hierin zu entsprechen. Kein Augenblick in der Zeit eignet sich demnach mehr dazu, das Jetzt der vollendeten Gegenwart zu sein. Der Aufschub läuft der Gegenwart den Rang ab; Sein will
als Zeit begriffen werden. Das Interesse an Identität wird von dem an Differenz überholt; Ausstreuung gewinnt die Oberhand über Sammlung; im Herzen der Präsenz schon spielt die Vertagung ihr Spiel. Es beginnt ein Zeitalter, dem Projekte und Kredite mehr bedeuten als Rückblicke und Summen; in ihm kann sich das theoretische Bedürfnis nicht länger in abendlichen Gesamtansichten von Erreichtem Genugtuung schaffen.
Tatsächlich, die nachmetaphysische Vernunft ist zur Zukunftsorientierung verdammt. Zukunft ist das, womit bloßes Denken nicht fertig wird. Ob in der Zukunft eine Rettung liegt, bleibt für die Heutigen ungewiß. Wird man sich nicht eher auch künftig wieder vor Rettern retten müssen? Nach all den hegelisierenden Experimenten im Realen wissen wir, daß man einer kranken Welt mit groben, überschwenglichen Kuren nicht hilft. Nicht wenige enttäuschte Metaphysiker gestehen jetzt ihr Ressentiment gegen die undankbare und unheilbare Wirklichkeit ein. Wie resignierte Kliniker neigen sie dazu, diese Welt, die unverbesserliche, zum Untergehen nach Hause zu entlassen. Doch die Wut dieser hilflosen Helfer wiegt nicht schwer. Man mag sich fragen, ob Philosophen überhaupt, nach allem, was geschehen ist, sich weiter als Ärzte der Kultur verstehen dürfen. Sollen sie sich damit abfinden, daß sie bloßgestellter scheinen als die, die auch nicht helfen können? Haben ihnen nicht längst andere Helfer, andere
Heiler den Rang beim Publikum abgelaufen – und dies aus Gründen, die vorerst kaum zu entkräften sind? Was können die von Vollendungszauber noch immer faszinierten Denker künftig anderes leisten, als ihre Klienten vor sich selbst zu warnen? Geht es jetzt nicht darum, zur Unreife zu reifen? Die Erinnerung an Hegel und das glänzende Elend seiner Erfolge mag nützlich sein, um zu verstehen, warum im Methodenstreit der Weltärzte auch weiterhin einzelne Philosophen, nachhegelsche wie nichthegelsche, ihr Wort, mag es auch ein viel bescheideneres sein, zu sagen haben werden.
SCHELLING
Das Bild des Philosophen Schelling ist vor allem durch seinen glänzenden Jugendmythos geprägt. Mit einer dämonisch anmutenden Selbstsicherheit setzte sich um das Jahr 1800 ein Zwanzigjähriger an die Spitze der deutschen Philosophie, die damals, gleichsam als das geistige Supplement der Französischen Revolution, die Avantgarde des Weltgedankens repräsentierte. In strahlender Prosa entwarf der junge Schelling eine Reihe von Systemskizzen, die vor der verblüfften Öffentlichkeit eine Himmelsreise der spekulativen Vernunft vollführten. Er schien ein Verfahren entdeckt zu haben, vom Absoluten her zu reden wie von einem gesicherten Standort aus. Welche Gegenstände der Jüngling auch berührte, alles verwandelte sich unter seiner energischen Diktion in Höhenflug und spekulatives Gewitter. Es war, als sollte bewiesen werden, daß endlich wieder einmal ein Mitwisser Gottes unter uns sei. Schelling trieb die Tonart der Endgültigkeit auf die Spitze und erhob das Oszillieren zwischen extremen Gesichtspunkten in den Rang eines Verfahrens. Als er den Sprung von der Fichteschen Bewußtseinsphilosophie zur Naturphilosophie vollzog, heftete sich der Ruf des Leichtsinns, ja der Inkonsequenz an seine Fersen, doch daß in dieser
Wendung eine plausible Methode lag, sollte den meisten seiner Kritiker entgehen. So war es kein Wunder, daß ihm schon von einem frühen Punkt seiner Laufbahn an nicht nur bewundernde Sympathien entgegengebracht wurden, sondern auch Skepsis und feindseliger Argwohn. Es ist nicht wahr, daß
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