Philosophische Temperamente
publizistischen Tageserregungen der Vormärzepoche und ganz im Schatten von Hegels triumphalistischen Verführungen. So konnte der ungerechte Anschein aufkommen, daß der ältere Schelling nur noch ein klassisches Relikt darstelle, das an vom Zeitgeist überwundene Positionen gebunden geblieben sei.
Dieser Eindruck verstärkte sich durch das Debakel von Schellings Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Offenbarung, als der Fünfundsechzigjährige vor einem zunächst faszinierten, dann gelangweilten Publikum mit seinen theosophischen und historiosophischen Evasionen scheiterte. Zu seiner Verkennung hat Schelling selber nicht wenig beigetragen, vor allem, weil er kaum noch die Kraft zum Abschluß einer Abhandlung aufbrachte und sich, als wäre er nachträglich über seine frühen Heldenstücke erschrocken, in einem endlosen Zögern vor der Vollendung geplanter Hauptwerke versteckte. Es kam hinzu,
daß sein später Stil sich trübte und verknotete und kaum je wieder zu der »sonoren Siegesgewißheit« seiner frühen Verkündigungen zurückfand. In Schellings Spätstil, mit seiner wunderlichen Komplexität und seinem melancholischen Helldunkel, manifestiert sich der schwierige Abschied vom Epochentraum der Vernunftallmacht. Schellings späte Prosa zeigt die schmerzliche Maske eines Idealismus, der seine besten Kräfte aufbieten mußte, um sich selbst in die Grenzen sterblicher Reflexionen zurückzunehmen. Gleichwohl war für Schelling die Selbstzügelung des Idealismus die notwendige Bedingung für eine Öffnung des Denkens auf die Zukunft. Hier nimmt die Philosophie des Noch-Nicht ihren Anfang.
In Schellings großartiger Abwendung von den ungebührlichen Großartigkeiten der Vernunft gibt sich die Signatur des zeitgenössischen Denkens zum ersten Mal authentisch zu erkennen. Schellings prominentester Schüler, König Maximilian von Bayern, war der Schulmeinung seiner Zeit voraus, als er auf das Denkmal des 1854 verstorbenen Philosophen die Worte setzen ließ: »Dem ersten Denker Deutschlands«. Weder der Neokantianismus und der Neohegelianismus noch die von Husserl inaugurierte phänomenologische Bewegung haben es vermocht, das Königsurteil ganz zu desavouieren. Durch die Vielfalt seines Werks und die Mühen seiner Denkwege gab Schelling der Nachwelt eine Idee vom Preis der Reife.
SCHOPENHAUER
Schopenhauer ist der erste Denker ersten Ranges gewesen, der aus der abendländischen Vernunftkirche ausgetreten ist. Neben Marx und den Junghegelianern war er derjenige, der den revolutionären Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts in der prinzipiellsten Form vollzogen hat. Bei ihm beginnt die lange Agonie des guten Grundes; er gab den griechischen und jüdisch-christlichen Theologien einen prägnanten Abschied. Das Allerwirklichste hatte für ihn aufgehört, ein göttliches vernünftig-gerechtes Geistwesen zu sein. Mit seiner Willenslehre springt die Theorie des Weltgrundes um vom frommen Rationalismus, wie er von Platons Tagen an in Geltung war, zu einer von Grauen und Staunen geprägten Anerkennung des Arationalen; Schopenhauer statuiert zuerst die vernunftfreie Energie- und Triebnatur des Seins. Darin ist er einer der Väter des psychoanalytischen Jahrhunderts; er könnte sich künftig noch als entfernter Schutzherr und Verwandter eines chaostheoretischen und systemischen Zeitalters erweisen. Daß er den asiatischen Weisheitslehren, dem Buddhismus zumal, mit höchstem Respekt die europäischen Türen geöffnet hat: darin könnte auf lange Sicht seine wichtigste geistesgeschichtliche Wirkung liegen.
Mag sein, daß seine Lehre von der Resignation des Willens für den Lebenshunger der Menschheit in der heutigen Ersten Welt noch befremdlicher klingen muß als für Schopenhauers Zeitgenossen, die progressiven Positivisten und die menschheitsgläubigen Weltrevolutionäre; doch erinnert sie auch heute daran, daß der entfesselte Lebenshunger die Probleme, die sein freier Auslauf schafft, nicht durch seine weiteren Steigerungen wird lösen können. Von Schopenhauer könnte der Satz stammen: Nur die Verzweiflung kann uns noch retten; er hatte freilich nicht von Verzweiflung, sondern von Verzicht gesprochen. Verzicht ist für die Modernen das schwierigste Wort der Welt. Schopenhauer hat es gegen die Brandung gerufen. Nach ihm sind die Fragen des Ethischen radikaler als je zuvor offen.
KIERKEGAARD
Historismus und Evolutionismus – die beiden Vermächtnisse des 19. Jahrhunderts an das 20. und 21. – haben in die
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