Philosophische Temperamente
Schelling, nach Hegels gehässiger Bemerkung, seine Ausbildung vor dem Publikum gemacht hätte; aber es trifft zu, daß der von seinem eigenen Schwung überwältigte junge Autor sich auch vor einer Öffentlichkeit produzierte, in der es viele gab, die seine Bravourstücke mit dem Eidechsenblick ungerührter Mittelmäßigkeit anstarrten. Doch dies fiel kaum noch ins Gewicht, solange Schelling sich als Abgott der frühen Romantikergeneration behaupten konnte. Unwiderstehlich klang seine evangelische Fanfare von der schöpferisch wirksamen Natur in uns selbst. Sein Jugendwerk, vor allem aus der Zeit von Schellings glücklicher Konstellation mit dem wohlwollenden Goethe, spiegelt einen pleromatischen Weltaugenblick wieder – es bezeugt eine singuläre Vollmacht der Intelligenz in der Fülle ihrer Epoche. Mag sein, daß dieser Schellingsche Augenblick unwiederbringlich der Vergangenheit anheimgefallen ist; gleichwohl ist aus ihm eine Problemstellung aufgetaucht, in der sich auch das zeitgenössische Denken wiederzuerkennen vermag. Denn in seiner naturphilosophischen Kehre hat Schelling das Motiv jener ermöglichenden Vergangenheit
des Bewußtseins entdeckt, ohne die es die für das Denken der Moderne maßgeblichen Kategorien des Unbewußten und der kognitiven Evolution nicht gäbe. Nur durch die mesmeristisch-magische Attitüde bleiben Schellings Durchbrüche zur logischen Modernität dem romantischen Horizont verhaftet; in der Sache betreibt Schelling eine Naturgeschichte der Freiheit als Embryologie der Vernunft. Tatsächlich lauscht der junge Philosoph wie ein enthusiastischer Gynäkologe am Bauch der geistträchtigen Natur, um in ihrem Inneren die Herztöne des noch nicht zur Welt gebrachten Selbstbewußtseins nachzuweisen. Aus seiner Assistenz bei der Geburt des Bewußtseins aus dem noch Bewußtlosen gewinnt Schelling die Einsichten, durch die er zum Ersten unter den großen Theoretikern der Kunst in der Moderne werden sollte.
Es gibt einen zweiten Mythos Schellings, der von der Gemütsverfinsterung des alternden Genius handelt. Man hat gemeint, beim späteren Schelling die Trauer des gefallenen Engels wahrzunehmen, und hat versucht, seine Lebenskurve als den unvermeidlichen Abstieg nach einer unüberbietbaren Anfangshöhe zu deuten – als habe man es mit einem Rimbaud der spekulativen Vernunft zu tun. Manche Autoren gingen so weit, darüber nachzudenken, welches Schelling-Bild wohl überliefert worden wäre, wenn der geistesmächtige Heros, wie Novalis, am Ende seiner Jünglingsjahre verstorben wäre. Tatsächlich hat es
der spätere Schelling all denen schwer gemacht, die nur auf idealische Heldenverehrung aus waren. Unleugbar steht seine zweite Lebenshälfte im Zeichen einer zunehmenden Erschwerung. Diese jedoch hat keinen Verfallscharakter, sondern bezeugt ein großartiges Ernstwerden und einen bezwingenden Fortschritt im Bewußtsein von Schwierigkeiten. In verborgenen Jahrzehnten ist es Schelling gelungen, die glänzende Klammer seiner scheinhaften Frühvollendung zu sprengen und die Fundamente seines Denkens in Problemschichten zu verlegen, in die vor ihm kein idealistischer Denker vorgedrungen war. Nun kam ihm das Furchtbare im Grund der Welt vor Augen, und er erkannte die Schwermut als das Tiefste der Natur. In unvergleichlich dichten und dunklen Untersuchungen erwog er das Böse wie eine aparte Weltmacht; er ging der unheimlichen Macht des Niedrigen, sich als das Höhere zu setzen, als schlimmer Triebkraft des Weltlaufs auf den Grund; er brütete über den Ungründen Gottes mit einer Beharrlichkeit, die weniger in das München des frühen 19. Jahrhunderts als in das Alexandria des 3. Jahrhunderts nach Christus zu passen schien.
Wollte man die Stoßrichtung von Schellings späteren Arbeiten mit einem Ausdruck namhaft machen, so müßte man von der Eroberung der Gebrochenheit sprechen. Schellings Spätwerk bietet das erste große Monument einer postnarzißtischen Vernunftanstrengung. Seine Besinnung
versenkt sich in die Endlichkeit und Geschichtlichkeit der Vernunft; sie gibt der Ahnung Raum, daß der Griff der Philosophie nach dem Einen und Ganzen das Wesen des Wirklichen und die Offenheit des Werdens immer schon verfehlt. Dieses Denken läßt in vielem, vor allem wo es den Vorrang der Zukunft im Gefüge der Zeiten herausarbeitet, den Neubeginn des philosophischen Fragens bei Heidegger vorausahnen. Errichtet wurde das Schellingsche Spätwerk in langwierigen, gleichsam unterirdischen Prozessen, fern den
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