Philosophische Temperamente
Bischofsmonarchie und Auslegungsgewalt bis zur letzten Konsequenz durchdacht und vollzogen. Autoritas, non veritas facit legem. Der Interpret, nicht der Text gibt das Gesetz. Im ersten Rom, nicht im dritten, residiert die Partei, die wirklich immer recht hat. Daß der Interpret es ist, der die Meisterworte zum Sprechen bringt: diese Regel gilt
nicht allein für evangelisch strahlende alte Textmaterie, die sich als Gründungsmasse für Kirchen eignet; sie läßt sich auch an paraevangelischen Schriften aus jüngerer Zeit belegen. Man hat gelegentlich die Namen der drei Großautoren Marx, Nietzsche und Freud, die je auf ihre Weise die Zwielichter des 19. Jahrhunderts ins zwanzigste herübertrugen, in einem Atemzug genannt, und man hat an ihnen einen gemeinsamen Nenner feststellen wollen, den man ihre dysangelische Sendung nannte. Sie gelten, vor allem bei Vertretern des christlichen Humanismus, als die Überbringer jener drei penetranten schlechten Botschaften über die Grundkräfte der menschlichen Wirklichkeit, mit denen die Bürger der Moderne seither ihre Rechnung zu machen haben: Herrschaft der Produktionsverhältnisse über die idealistischen Fiktionen; Herrschaft der Vitalitätsfunktionen alias Wille zur Macht über die symbolischen Systeme; Herrschaft des Unbewußten oder der Triebnatur über das menschliche Selbstbewußtsein. Mit dreifacher Stimme scheinen die Dysangelisten ein und dasselbe Verhängnis zu verkünden: Ihr seid Gefangene von Strukturen und Systemen! Die Wahrheit wird euch unfrei machen. Marx, Nietzsche und Freud, die dunklen Boten, wären in dieser Sicht die Überbringer von Wahrheiten, die nicht erheben und verbinden, sondern auflösen und beschweren. Sieht man näher zu, so zeigt sich freilich, daß die drei Autoren ganz andere Wirkungen
ausübten als die von endzeitlichen Herolden menschlicher Verstrickung oder Dezentrierung. Sie alle haben, im Gegenteil, jeder auf seine Weise, Formen von Nachfolge gefunden, die man apostolisch nennen müßte, wäre der Ausdruck nicht durch das christliche Paradigma allzu eindeutig präokkupiert. Marx ist wie Nietzsche und wie Freud zum Urheber von Texten und Tendenzen geworden, an denen sich das Gesetz der Interpretenherrschaft mit aller Macht behauptet hat. Sie alle haben agile Leser gesucht und gefunden, die in ihren Schriften die Stichworte für Karrieren, ja die Vorwände für Staatsstreiche, Gesellschaftsgründungen und radikale Revolutionen der Denkund Lebensart erkannten. Im übrigen bezeugen ihre Werke gemeinsam das moderne Lehramt der Nicht-Professoren – sie zeigen an, in welchem Maß die Universität sich seit dem 19. Jahrhundert von den maßgeblichen kreativen Intelligenzen entfremdet hat. Was die Interpreten der modernen Meister angeht, so gilt auch für sie, daß Imperien, Kirchen und deren Schulen ihre maßgeblichen Arbeitgeber sind – und wo es, wie im ermächtigten Marxismus, gelingt, diese drei Instanzen in eine einzige Zentralgewalt der Sinngebung zu verschmelzen, dort genießen Funktionäre, die die Klassiker auslegen, die zügellosen Privilegien eines mit der Aristokratie vereinigten Klerus. Im totalitären System kann sich die Herrschaft des Sekundären fromm unter den Baldachin der Meistertexte
stellen. Wo Sekten an der Macht sind, werden Treue und Verrat ununterscheidbar. Bis vor kurzem war es auch unter westlichen Marxisten üblich, davon zu phantasieren, der Meister selbst hätte gewisse Abweichungen von seinen Doktrinen mit Beifall aufgenommen. Als eine der letzten Vaterfiguren der Wahrheit hat Marx in seinen Söhnen den Glauben gesät, daß auch der Widerspruch zum Vater noch vom Vater komme. Die marxistische Kirche wollte durch die Geschichte wandern als Prozeß-Einheit von Vater, Sohn und Kritik. Ich interpretiere, also bin ich ein Jemand; zeitgemäß konforme Auslegung erschließt Zugänge zu Positionen im Machtraum. Wo auch immer heilige oder klassische Schriften mit der Zumutung beladen werden, Reiche, Kirchen, Schulen zu begründen, dort sichern sich die Interpreten exquisite Plätze in den Hierarchien. Ist nicht die große Geschichte seit jeher das Reich der Sinnsoldaten? Läßt man Gestalten wie Lenin und Stalin, Mao Tse Tung und Pol Pot als Marx-Interpreten eigenen Rechts gelten, so wäre der Marxismus, durch das Prisma seiner skrupellosesten Aneigner hindurch wahrgenommen, ohne Zweifel der überragende Auslegungsmachtkomplex der jüngeren Ideengeschichte gewesen. Nicht umsonst konnte Stalin, seinerzeit amtierender
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