Philosophische Temperamente
Vertagungen der Vollendung impliziert. Für ein Denken in der Zeit der Existenz geht es nicht darum, irgendeine von Hegel offengelassene Position einzunehmen. Vielmehr steht der Name Hegels für das Massiv der Metaphysik insgesamt, von dem sich das existenzielle Denken zu lösen versucht, indem es sich nicht länger ans Objektive anlehnt, sondern die Abgründigkeit seiner Subjektivität offenhält. Wer vorhat, in Kenntnis der Sache mit Hegel zu brechen, muß mit diesem zugleich das platonische Erbe und den größten Teil der christlichen Theologie abstoßen.
Kierkegaards Existenzreflexion deckt für sich und seine Zeitgenossen die Notwendigkeit tieferer Datierungen auf: Wenn die Subjektivität die Wahrheit – und die Unwahrheit – ist, dann gilt es, sich in einem destruktiven Sinn nach Plato und in einem absurden Sinn nach und doch gleichzeitig mit Christus zu datieren. Plato hatte die Philosophie
als Metaphysik begründet, als er ihr den meisterlichen Anspruch einpflanzte, das Unvollendete zum Vollendeten, das Endliche zum Unendlichen hin zu überschreiten. Diese philosophischen Überschreitungen hatten die Qualität von erhabenen Regressionen, in denen sich der existierende Intellekt zu vorexistenziellen Intuitionen zurücktastet. Der metaphysische Grundakt, das Transzendieren, bedeutet eben: sich aus der Zeit zurückziehen, um den Ursprung im Absoluten wiederzugewinnen. Kierkegaard stellt diese Tendenz der Philosophie von Grund auf in Frage; für ihn ist es unmöglich, am Lichtfaden der Begriffe ins Zeitlose aufzusteigen. Die von den Tagen Platos und der Kirchenväter an immer von neuem unternommene Heimreise des menschlichen Geistes in Gott erscheint ihm als eine verräterische Karriere, zu der sich im metaphysischen Weltalter die einzelnen – nicht zuletzt unter herrschaftschristlichem Vorzeichen – verlocken ließen. Es ist aber die Wahrheit der Subjektivität, nach allen Aufschwüngen zurückzukehren zu ihrem Zwiespalt und ihrem Zweifel. Dies manifestiert sich für Kierkegaard besonders im Akt des Glaubens, mit dem der Mensch in der Nachfolge Christi sich über den Abgrund der Unglaublichkeit christlicher Doktrinen hinwegsetzt. Nur ein metaphysiziertes und zur sakralen Machtfolklore aufgedunsenes Christentum konnte sich einbilden, daß die Tradition der Märtyrer, der Heiligen und der Theologenväter zu einer Summe von Evidenzen zusammenwächst,
auf die der gläubige einzelne genauso beruhigt zurückblicken kann wie der Philosoph auf seine inneren Urbilder. Für Kierkegaard jedoch steht der einzelne auch heute vor der christlichen Legende völlig unbeholfen. Sollte er sich zur Nachfolge entscheiden, dann auf keinen Fall deswegen, weil schon so und so viele Machtmenschen, Hysteriker und Konformisten ihm auf diesem Weg vorausgegangen sind. Der Glaube gilt nur aufgrund einer Entscheidung zum Vertrauen, für das sich äußere Hilfsgründe letztlich nicht beibringen lassen. Glauben heißt für Kierkegaard, nicht einem komfortablen Nachahmungstrieb im ekklesialen und imperialen Rahmen nachgeben, sondern eine Wahl treffen angesichts des Unglaublichen. In diesem Wählen »wie zum ersten Mal« entdeckt Kierkegaard den Herzschlag der existenziellen, nach vorne offenen Zeit. Mit ihm öffnet sich die Möglichkeit für wesentlich Neues, das nicht nur aufgrund einer Ähnlichkeit mit ewigen Modellen gültig wäre. In diesem Sinn darf man behaupten, daß mit Kierkegaard das Denken der radikalen, in Experimenten schwebenden Modernität einsetzt. Er betrat als Erster das Zeitalter des Zweifels, des Verdachts und der schöpferischen Entscheidung.
MARX
Die Schicksale der Marxschen Schriften könnten ihren zeitgenössischen Kommentator zu der anzüglichen Bemerkung verführen, alle Geschichte sei die Geschichte von Interpretenkämpfen. Ihrer Herkunft nach ist die Wut des Interpretierens ein furor theologicus, und sie gedeiht am besten im Klima der militanten Monotheismen. Das zeigt sich nirgendwo deutlicher als in der Geschichte des Christentums, das seit achtzehnhundert Jahren mit einem beispiellos machthungrigen Willen zum Dienen und Verstehen ein schmales Faszikel von Schriften, das sogenannte Neue Testament, bewirtschaftet. Wie kein anderes bezeugt das Beispiel Christentum die weltgeschichtemachende Herrschaft der Interpreten über den Text. In monumentalen Zügen verkörpert der romanisierte Katholizismus den Idealtypus einer bürokratisch gemäßigten hermeneutischen Diktatur; in ihm ist die Einheit von
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