Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Philosophische Temperamente

Titel: Philosophische Temperamente Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Sloterdijk
Vom Netzwerk:
Überzeugungen der Späterlebenden den schalen Satz eingebrannt, daß jeder Gedanke das Produkt seiner Zeit sei. Wer das akzeptiert, scheint zunächst ein gutes Geschäft gemacht zu haben, denn der Historismus befreit die einzelnen von dem monströsen Gewicht der philosophia perennis und bietet ihnen die Chance, mit leichterem Gepäck durch die Zeit zu reisen. Es genügt, sich an die Spitze der Entwicklung zu setzen, um den Nachteil des Relativismus, die eigene Überholbarkeit, zu verschmerzen. Das historische Denken will die absolute, aber trügerische Souveränität, die die Metaphysik gewährte, ersetzen durch die relative Souveränität des Denkens, das sich für das avancierte halten darf. Von Kierkegaard läßt sich aber lernen, daß der Historismus ein Trick ist, den Standpunkt der Nachmetaphysik zu halbem Preis zu erreichen. Für Kierkegaard ist das radikale Denken nicht das Kind seiner Zeit; es ist das Bekenntnis zu seinem Datum.
    Die wichtigste Bestimmung, mit der neuere Denker ihren Platz in der Reihe der epochalen Grundstellungen und der philosophischen Systeme zu markieren versucht haben,
ist ohne Zweifel das Datum: nach Hegel. Mit ihm hat sich eine doppelte Suggestion verbunden. Zum einen steht die Formel »nach Hegel« für die Auffassung, daß in Hegels Werk vollendet worden sei, was im griechischen Aufbruch begonnen hatte. Von nun an kann die Geschichte der Philosophie als Epos des Begriffs, der sich selbst durchdringt, systematisch dargestellt werden. Wenn aber die Geschichte des Geistes zugleich die Substanz der Weltgeschichte ist, impliziert die Vollendung der einen auch den Abschluß der anderen.
    Nach der großen Wanderung des Geistes von Ionien nach Jena bricht ein endloser Feierabend an, in dem die Früchte der historischen Kämpfe kontemplativ und spielerisch genossen werden können. Sich nach Hegel zu datieren bedeutet hier, sich als dankbar erleuchteter Epigone in einer prinzipiell fertigen Welt einzurichten. – Das Datum »nach Hegel« bezeichnet freilich auch den Protest gegen die geschichtsphilosophische Idylle. Denn es entspricht der spontanen Lebenserfahrung der meisten, daß in ihrem Fall das Vernünftige noch nicht das Wirkliche ist, und das Wirkliche noch nicht das Vernünftige. Dieser Einwand führt zur Position der Junghegelianer im weiten Sinn. Sie haben Hegel in der Hauptsache nur seine Voreiligkeit vorzuwerfen. Wenn sie das Werk des Meisters kritisch anerkennen, so nicht als das letzte, sondern als das vorletzte Kapitel der Geschichte. Sie beharren auf der
Unterscheidung, daß die Vollendung der Theorie keineswegs auch schon die praktische Verwirklichung bedeutet; vielmehr muß von nun an bis auf weiteres ständig von der Theorie zur Praxis »übergegangen« werden. Diese Gruppe von Nachhegelianern verschiebt den Augenblick der Vollendung auf einen späteren Termin, bis zu guter Letzt auch den Ansprüchen der von Hegels Geist übersprungenen Größen Genugtuung gegeben wäre: dem Proletariat, den Frauen, den Marginalisierten, den kolonisierten Völkern, den Geistes- und Seelenkranken, den diskriminierten Minderheiten, schließlich auch der gesamten versklavten Natur. All diese Instanzen sind mögliche Subjekte und Motoren der weitergehenden Geschichte in dem Maß, wie sie kraft ihrer informierten Unzufriedenheit Nachforderungen stellen, die durch historische Arbeiten und Kämpfe erfüllt werden müssen, bevor das Jetzt der abgespannten Nachgeschichte anbrechen kann. Daher lautet das Grundwort des unbefriedigten Nachhegelianismus: Der Kampf geht weiter. Die abschließende Arbeit bleibt zu tun. Die Theorie, die noch kämpft, stellt sich vor als die kritische: Sie trägt die Fackel der Wahrheit durch eine noch nicht wahre Welt; sie totalisiert die Sicht des unbefriedigten Teils aufs scheinheile Ganze. Ihr Datum ist die Periode des Übergangs von der theoretischen Antizipation zur praktischen Vollendung: nach Hegel – vor dem Vernunftreich.

    Orientierte man sich nur an der Chronologie, so könnte man von Kierkegaard nichts anderes als eine Variante nachhegelschen Denkens erwarten. In Wahrheit hat Kierkegaard mit dem metaphysischen Vollendungsschema insgesamt gebrochen und sich in eine Zeit plaziert, die mit den zerdehnten Endspielen der Erleuchtung und der Geschichtsabschließung nichts mehr gemein hat. Damit gab er der Position »nach Hegel« einen völlig anderen Sinn, der weder das befriedigte Bewußtsein der vollzogenen absoluten Reflexion meint noch die kritizistischen

Weitere Kostenlose Bücher