Phönix
erwarten«, sagte sie. »Wenn Ihr mir folgen wollt?«
Noish-pa wirkte durch den Prunk des Schwarzen Schlosses beeindruckt, als wir uns durch Marmorhallen und über breite Treppen voranbewegten. Auch Ambrus schaute sich um, wie um sich einen Fluchtweg auszusuchen. Fast konnte ich sehen, wie Noish-pa sich im Geiste Notizen machte, welche Skulpturen, Gemälde und Psidrucke, an denen wir vorbeikamen, er genauer untersuchen mußte. Lady Teldra wäre bereitwillig stehengeblieben und hätte ihn sofort damit beginnen lassen und dazu noch Kurzbiographien der Künstler und die Entstehungsgeschichten beigesteuert, aber ich wollte mich unbedingt setzen.
Morrolans Bibliothek ist eigentlich ein ziemlicher Komplex von Räumlichkeiten, deshalb war es hilfreich, daß sie uns den richtigen Raum zeigte. Es sagt einiges über ihn oder Dragaeraner im allgemeinen aus, daß die Bücher weder nach Gegenstand noch nach Titel geordnet waren, sondern in erster Linie nach dem Haus der Verfasser. Wir erwarteten ihn im größten Zimmer, in dem selbstverständlich nur Bücher standen, die von Dragonlords geschrieben worden waren.
Kaum daß wir uns gesetzt hatten und Lady Teldra den Wein eingegossen hatte, trat Morrolan ein. Wir erhoben uns beide und verneigten uns, doch er wollte, daß wir uns wieder setzten. Dann verneigte er sich tief vor meinem Großvater und kam gerade rechtzeitig hoch, daß Loiosh auf seiner Schulter landen konnte. Rocza flog zu Ambrus hinüber, der sie anfauchte und sich dann ablecken ließ, was mich erstaunte.
Wir setzten uns wieder, und Lady Teldra schenkte uns ein und gab meinem Großvater das erste Glas. Ich sagte: »Im Namen meines Großvaters, Morrolan, danke. Wir –«
»Ist schon gut«, unterbrach er. »Natürlich seid ihr hier willkommen, so lange ihr wollt. Aber hast du schon von Cawti gehört?«
Ich hielt mit erhobenem Glas inne, setzte es vorsichtig ab und sagte: »Erzähl es mir.«
»Sie ist erneut verhaftet worden. Dieses Mal auf den direkten Befehl der Imperatorin. Die Anklage lautet auf Verrat gegen das Imperium. Vlad, sie steht vor ihrer Hinrichtung.«
LEKTION
DAS WESEN DES VERRATS
Ich spürte den Blick meines Großvaters auf mir, sah ihn aber nicht an. Ich fragte: »Ist ein Verfahren anberaumt?«
»Nein. Zerika sagt, sie wird warten, bis der Aufruhr vorüber ist.«
»Aufruhr? War das ihre Bezeichnung dafür?«
»Ja.«
»Verstehe. Hat Norathar irgendwas unternommen?«
»Bisher nicht. Sie hat Truppen angeführt. Sie sagt –«
»Truppen angeführt? In der Stadt?«
»Nein, sie stellt eine Invasionsarmee für Grünewehr zusammen.«
»Oh. Das ist ja eine Erleichterung.«
»Weshalb?«
Ich schüttelte den Kopf. Es wäre zu schwierig zu erklären. »Was weißt du über das, was vorgefallen ist?«
Er zuckte die Achseln. »Unruhen. Ich befand mich während des zweiten Angriffs im Imperialen Palast, ebenso während der Belagerung, daher weiß ich über die Vorgänge dort Bescheid, aber von allem anderen habe ich zumindest gehört. Zerika sagt, man werde bis morgen früh wieder alles unter Kontrolle haben.«
»Unter Kontrolle«, wiederholte ich. Ich sah Noish-pa an, doch diesmal wandte er sich ab.
»Ja«, fuhr Morrolan fort. »Sethra hat Ordnung in –«
»Sethra! Lavode?«
»Sethra die Jüngere.«
»Wie ist die an ein Kommando gekommen?«
»Der Brigadier der Phönixwachen ist gestern über einem Zerwürfnis mit der Imperatorin zurückgetreten. Die Einzelheiten kenne ich nicht.«
»Vielleicht fand er die Vorstellung nicht schön, Tausende hilfloser Ostländer niederzumetzeln.«
»Hilflos? Vlad, hast du nicht zugehört? Es hat Angriffe auf den Imperialen Palast gegeben. Sie haben ihn belagert. Sie haben sogar der Imperatorin gedroht –«
»Ach, hör auf. Sie hätte sich jederzeit problemlos nach draußen teleportieren können.«
»Darauf kommt es nicht an, Vlad. Die Heiligkeit des Palastes zu bedrohen –«
»Können wir das Thema wechseln?«
»Du hast angefangen«, sagte er steif.
»Ja. Tut mir leid.« Loiosh flog mir wieder auf die Schulter und rieb sich an meinem Ohr. Ich fragte: »Was ist mit dem Krieg?«
»Bist du sicher, daß du davon hören möchtest?«
»Ich versuche, mir was einfallen zu lassen, damit ich Cawti dort rausholen kann. Zuerst muß ich dafür wissen, was mit der Imperatorin los ist, dann kann ich entscheiden, wie sie zu beeinflussen ist. Ist das verständlich?«
Er wirkte erstaunt; ich vermute, solche Gedankengänge erwartete er nicht von mir. Dann sagte er:
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