Physiologie der Ehe (German Edition)
völlig unmöglich ist, die unermeßlich zahlreichen Einzelheiten dieses Themas aufzuzählen, so verlassen wir uns völlig auf den Scharfblick des Lesers, der die große Ausdehnung dieser Wissenschaft bemerken muß; sie beginnt mit der Analyse eines Blickes und endigt mit der Wahrnehmung der ungeduldigen Bewegung einer unter der Seide eines Schuhes oder unter dem Leder eines Stiefels verborgenen großen Zehe.
Aber der Abgang! ... denn wir müssen auch den Fall voraussehen, daß du die sorgfältige Prüfung an der Türschwelle versäumt haben solltest, und alsdann gewinnt der Abgang ein ganz besonderes Interesse, um so mehr, da diese neue Beobachtung des Junggesellen auf denselben Grundprinzipien beruhen, aber in der umgekehrten Reihenfolge vorgenommen werden muß wie die erste.
Beim Abgang gibt es jedoch eine ganz besondere Situation, nämlich den Augenblick, wo der Feind über alle Befestigungswerke hinaus ist, von denen aus er beobachtet werden konnte, den Augenblick, wo er die Straße betritt! Hier muß ein kluger Mann den ganzen Verlauf eines Besuches erraten, indem er den Besucher unter einem Torweg stehen sieht. Die Anzeichen sind allerdings viel spärlicher – aber wie klar sind sie auch dafür! Es ist die Lösung des Knotens, und der Besucher verrät sie auf der Stelle durch den ganz einfachen Ausdruck von Glück, Kummer oder Freude.
Beobachtungen sind in solchem Fall leicht zu machen: er wirft einen Blick auf das Haus oder auf die Fenster der Wohnung; er geht mit langsamen, müßigen Schritten; der Dummkopf reibt sich die Hände, der Geck entfernt sich mit tänzelnden Schritten, der von einer tiefen Erregung Erfüllte bleibt unwillkürlich stehen; auf dem Treppenabsatz konntest du deine Fragen so klar und deutlich stellen, wie wenn eine Provinzialakademie einen Hunderttalerpreis für eine Abhandlung aussetzt; beim Abgang sind die Antworten klar und deutlich. Es würde die Kräfte eines Menschen übersteigen, wenn man uns die Aufgabe zuschieben wollte, die verschiedenen Arten aufzuzählen, wie die Menschen ihre Empfindungen verraten: hier kommt alles auf Takt und Gefühl an.
Wenn du nun diese Beobachtungsgrundsätze auf Fremde anwendest, so wirst du natürlich erst recht deine Frau denselben Förmlichkeiten unterwerfen.
Ein verheirateter Mann muß das Gesicht seiner Frau zum Gegenstand eines tiefen Studiums gemacht haben. Dieses Studium ist leicht; man betreibt es sogar ganz unwillkürlich und in allen Augenblicken. Für ihn darf dieses schöne Frauenantlitz keine Geheimnisse mehr haben. Er weiß, wie auf ihm die Empfindungen sich malen und unter welchem Ausdruck sich diese Empfindungen vor seinem glühenden Blick zu verbergen suchen.
Da steht diese Frau: alle sehen sie an, und niemand vermag ihren Gedanken zu verstehen. Aber für dich ist ihr Augapfel mehr oder weniger schön gefärbt, größer oder kleiner; ihre Wimper hat gezuckt, ihre Braue hat sich bewegt; eine Falte ist auf ihrer Stirn erschienen und so schnell wieder verschwunden wie eine Wellenfurche auf dem Meer; ihre Lippe hat sich eingezogen, leicht gekrümmt oder gezuckt – für dich hat die Frau gesprochen. Wenn du in jenen schwierigen Augenblicken, wo eine Frau in Gegenwart ihres Mannes sich verstellt, mit der Seele der Sphinx sie zu erraten weißt – so begreifst du wohl, daß die Grundsätze der Ehezollprüfung ihr gegenüber nur noch ein Kinderspiel sind.
Wenn deine Frau nach Hause kommt oder ausgeht, überhaupt wenn sie sich allein glaubt, ist sie so unvorsichtig wie eine Elster; sie wäre imstande, sich selber laut ihr Geheimnis zu erzählen: wenn im Augenblick, wo sie dich sieht, ihre Züge plötzlich einen andern Ausdruck annehmen, so findet doch bei aller Schnelligkeit dieses Zusammenziehen nicht schnell genug statt, als daß du nicht den Ausdruck erkennen könntest, den ihr Gesicht in deiner Abwesenheit gehabt hat; daher mußt du in ihrer Seele lesen wie in einem Kirchengesangbuch. Endlich wird auch deine Frau oft vor der Schwelle stehen, wo die Selbstgespräche gehalten werden, und hier kann ein Ehemann in jedem Augenblick sich der Gefühle seiner Frau vergewissern.
Sollte ein Mann gegen die Geheimnisse der Liebe so gleichgültig sein, daß er nicht manches Mal den leichten, trippelnden, koketten Schritt einer Frau bewundert hätte, die zu einem Stelldichein eilt? Sie schlüpft durch die Menschenmenge hindurch wie eine Schlange durchs Gras. Die Moden, die Stoffe und die glänzenden Lockmittel, die die Wäschegeschäfte ihr
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