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Picknick auf dem Eis (German Edition)

Picknick auf dem Eis (German Edition)

Titel: Picknick auf dem Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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bißchen fern, dann wieder saß er in der Küche, wohin er den Tisch und die Kochplatte zurückgebracht hatte.
    Endlich hielt er es nicht mehr aus, bat Sonja, nicht auf den Hof zu gehen, und begab sich zur Telefonzelle, um den Chef anzurufen.
    Die Sekretärin nahm den Anruf entgegen.
    »Kann ich Igor Lwowitsch sprechen?« fragte Viktor.
    »Tanja, leg den Hörer auf«, hörte er die Stimme des Chefs. »Ja bitte?«
    »Ich bin es, Viktor… Kann ich zurückkommen?«
    »Ja bist du denn weggefahren?« fragte der Chef mit gespielter Überraschung. »Natürlich kannst du. Es ist alles in Ordnung. Komm zurück und gleich zu mir, ich muß dir was zeigen!«
    Nach diesem Gespräch rief Viktor Sergej an und bat ihn, sie so schnell wie möglich abzuholen.
    Sehr viel fröhlicher kehrte Viktor zum Häuschen zurück. Neujahr, obwohl ja eigentlich schon vorbei, schien endlich auch für ihn ein Fest zu werden. Der Schnee knirschte wieder unter den Stiefeln, aber jetzt freute sich Viktor über das Geräusch. Er sah sich um und bemerkte vieles, was er bisher nicht beachtet hatte: die malerische Schönheit der winterlichen Bäume, die Gimpel, die im Schnee zwischen Katzen- oder Hundespuren herumspazierten. Aus irgendwelchen vergessenen Tiefen seines Gedächtnisses tauchten Erinnerungen an Heimatkundestunden auf, in denen er vor langer Zeit gelernt hatte, Tierspuren zu unterscheiden, und er erinnerte sich ganz deutlich an Hasenspuren auf einer Zeichnung im Lehrbuch, einzelne und paarweise. »Ein Hase, der vor seinen Verfolgern flieht, schlägt Haken«, hörte er die Stimme seiner ersten Lehrerin.
    39
     
    Nachdem er die Tasche mit der Pistole und den Dollars auf den Schrank geworfen hatte, ließ er Sonja mit dem Pinguin allein zu Hause und fuhr in die Redaktion.
    Der Chef begrüßte ihn mit einem breiten Lächeln. Er setzte sich in den Sessel, trank Kaffee, fragte nach den Silvester- und Neujahrserlebnissen und zögerte offensichtlich den offiziellen Teil des Gesprächs hinaus. Schließlich, als der Kaffee ausgetrunken war und eine lange peinliche Pause entstand, die kaum noch mit leerem Geplänkel auszufüllen war, zog Igor Lwowitsch aus der Schublade seines Schreibtischs einen großen Umschlag heraus, aus dem er, Viktor fest in die Augen sehend, einige Fotografien nahm und sie ihm zuschob.
    »Sieh dir das mal an, vielleicht kennst du sie«, sagte er.
    Viktor sah auf den Fotos zwei junge, sehr gut angezogene Leichen. Die etwa fünfundzwanzig Jahre alten Männer lagen artig und ordentlich in einer Wohnung, keine nach rechts oder nach links gekrümmten Beine oder Arme, keine vor Angst oder vor Schmerz verzerrten Züge. Ruhige und gleichgültige Gesichter.
    »Sag schon, kennst du die?« fragte der Chef.
    »Nein«, antwortete Viktor.
    »Das waren die, die dich gesucht haben… Und das ist für dich zur Erinnerung!« er schob ihm noch zwei Fotos hin.
    Auf beiden Fotos sah sich Viktor selbst, einmal im Café unter der Charkower Oper und einmal auf der Straße, auch in Charkow.
    »Bescheidene Jungs«, sagte der Chef. »Zu zweit nur eine Pistole mit Schalldämpfer… Na, jedenfalls haben sie dich nicht gefunden… Aber die Negative von diesen Bildern« – er wies auf die Fotos in Viktors Hand, »existieren noch irgendwo in Charkow… Ich glaube nicht, daß sie jemanden hierher schicken, aber sei vorsichtig.«
    Zum Schluß überreichte ihm der Chef eine Mappe mit Materialien für neue Nachrufe.
    »Komm, fang langsam wieder an zu arbeiten!« sagte er, klopfte ihm auf die Schultern und begleitete ihn hinaus.
    40
     
    Der Winter war im Januar träge – er nützte den Schnee des vergangenen Jahres, der aufgrund der andauernden Kälte nicht geschmolzen war. Der Neujahrsschmuck hing zwar noch in den Schaufenstern, aber die Feiertagsstimmung war verflogen und hatte die Leute mit dem Alltag und den Sorgen um die Zukunft alleingelassen. Viktor bearbeitete die nächste Mappe mit Dossiers. Er bekam jetzt alle Papiere direkt vom Chef; Fjodor hatte vor den Feiertagen gekündigt. Die ›Kreuzchen‹-Kartei wuchs weiter. In der neuen Mappe lagen Dossiers über Fabrikdirektoren und Vorsitzende von Aktiengesellschaften. Fast alle waren an Diebstahl und Geldüberweisungen an westliche Banken beteiligt, einige handelten mit verbotenen Rohstoffen, andere hatten per Naturalienwirtschaft ihre eigenen Maschinen über die Grenze verschoben. Fakten waren massenhaft aufgezählt, aber Gottseidank hatte der Chef bei weitem nicht alles rot unterstrichen. Die Arbeit fiel

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