Picknick auf dem Eis (German Edition)
›Dach‹, du bist im Unrecht. Außerdem, wie willst du beweisen, daß dich Mischa darum gebeten hat?«
»Ich habe es schriftlich von ihm«, erwiderte Viktor ruhig. »Ich kann es Ihnen zeigen.«
»Dann zeig her!«
Viktor ging ins Zimmer. Zwischen den Papieren auf dem Fensterbrett suchte er den Zettel, auf dem Mischa versprochen hatte, wieder zu erscheinen, ›wenn der Staub sich gelegt hat.‹ Er sah sich nach Sonja um, die zusammen mit dem Pinguin aufmerksam eine Eiskunstlaufsendung verfolgte, als er plötzlich die Eingangstür klappen hörte. Er ging in den Flur, schaute in die Küche. Der Besuch war gegangen, ohne sich zu verabschieden, hatte aber seinen eigenen, von Viktor verfaßten Nekrolog auf dem Tisch liegenlassen.
Nach ein paar Minuten war auf der Straße das Aufheulen eines Motors zu hören, und Viktor sah vom Fenster aus im Laternenlicht ein langgestrecktes Auto wegfahren, genau so eins wie Mischa-Nicht-Pinguin besessen hatte.
»Was wollte der Onkel?« Sonja guckte in die Küche.
»Dich…«, flüsterte er, ohne sich umzudrehen.
»Was?« fragte das Mädchen nach, das ihn nicht verstanden hatte.
»Sich unterhalten, einfach so…«, sagte Viktor.
Sonja kehrte zum Fernseher zurück, Viktor setzte sich an den Küchentisch und versank in tiefes Nachdenken. Er dachte über sein Leben nach, in dem Sonja jetzt eine gewisse Rolle spielte. Diese Rolle war zwar nur geringfügig, aber er fühlte sich verpflichtet, für sie zu sorgen, an sie zu denken, obwohl sich seine ganze Fürsorge für dieses Mädchen auf das Essen und seltene Gespräche beschränkte. Als wenn sie in seinem Leben nur physisch anwesend wäre, genau wie Mischa-Pinguin. Aber gleichzeitig versetzte ihn das Erscheinen eines Menschen, der ihm Sonja wegnehmen wollte, in Schrecken, und dieser Schrecken weckte in ihm eine unerwartete Entschlossenheit.
Und wieder die Anspielung auf irgendeine Protektion, auf irgendein ›Dach‹, das Viktor nicht kannte. All dies teilte sein Leben in zwei Hälften; die eine Hälfte kannte er, die andere Hälfte seines eigenen Lebens blieb ihm rätselhaft. Was existierte in dieser zweiten Hälfte? Woraus bestand sie? Viktor biß sich auf die Unterlippe. Am allerwenigsten wollte er sich mit Rätseln befassen. Der Chefredakteur vermittelte ihm mit seinem Rotstift Fakten, aus denen er jeden beliebigen Gedanken ableiten konnte. An diesem Abend fiel es Viktor schwer zu entscheiden, welcher der in seinem Kopf herumtanzenden Gedanken des Rotstifts würdig wäre.
41
Merkwürdigerweise vergaß Viktor nach einigen Tagen den Besuch von Sergej Tscherkalin. Er war von seiner Arbeit ganz und gar in Anspruch genommen, besonders nach einem Anruf des Chefs, der ihn höflich zur Eile antrieb. In den kurzen Pausen zwischen den Nekrologen trank er Tee und dachte daran, daß er Sonja mehr Aufmerksamkeit widmen müßte. Aber dieses ›müßte‹ verschob er auf einen späteren Zeitpunkt mit mehr Freizeit. Das einzige, womit er das Mädchen erfreuen konnte, waren Eis und Süßigkeiten, die er in größeren Mengen kaufte. Seine Einkäufe waren die einzige Möglichkeit, frische, kalte Luft zu atmen. Je öfter er einkaufen ging, desto mehr freuten sich Sonja und der Pinguin. Im Gegensatz zum Pinguin freute sich Sonja laut. Immer öfter nannte sie ihn ›Onkel Witja‹, was ihm sehr gefiel. Aber die Hauptsache war, daß sie ihm nicht übelnahm, daß sie die meiste Zeit zu Hause bleiben mußte. Und wenn sie abends vor dem Fernseher saßen und eine weitere Folge einer mexikanischen Serie anguckten, fühlte sich Viktor, ohne überhaupt wahrzunehmen, was er da sah, ruhig und zufrieden. Dieser Winter gefiel ihm. Über der Arbeit oder beim Fernsehen war schnell alles Unangenehme vergessen.
»Onkel Witja«, Sonja zeigte mit dem Finger auf den Bildschirm. »Warum hat Alexandra ein Kindermädchen?«
»Wahrscheinlich, weil sie reiche Eltern hat«, antwortete Viktor.
»Bist du reich?« fragte Sonja.
Viktor zuckte mit den Schultern.
»Nicht sehr…«
»Und ich?«
Viktor wandte sich dem Mädchen zu.
»Und ich… bin ich reich?« fragte sie erneut.
»Ja«, nickte Viktor. »Du bist reicher als ich…«
An dieses Gespräch erinnerte er sich am nächsten Tag während der üblichen Teepause. Wieviel ein Kindermädchen kostete, wußte er nicht, aber der Gedanke, ein Kindermädchen für Sonja anzustellen, schien ihm an diesem Tag eine wahre Entdeckung zu sein.
Abends kam sein Freund, der Revierpolizist, mit einer Flasche Rotwein zu ihm. Sie
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