Picknick auf dem Eis (German Edition)
Viktor schwer. Mal erschöpften sich seine philosophischen Einfälle, dann wieder mangelte es ihm an Inspiration. Jeder Nekrolog kostete ihn einige Stunden angestrengter Arbeit, und obwohl er zum Schluß mit den Texten zufrieden war, fühlte er sich überanstrengt und erschöpft und hatte keine Kraft mehr, weder für Sonja noch für den Pinguin. Wenigstens hatte er gleich nach ihrer Rückkehr nach Neujahr Sonja einen Farbfernseher gekauft. Jetzt saßen sie abends im Wohnzimmer und sahen fern; das Programm wählte Sonja aus. Sie hatte die Fernbedienung fest in der Hand.
»Das ist mein Fernseher!« sagte sie, und Viktor mußte sich fügen, denn er hatte den Fernseher ja von ihrem Geld gekauft.
Auch der Pinguin zeigte Interesse am Fernseher. Manchmal stellte er sich ganz dicht an den Bildschirm und störte Viktor und Sonja. Gewöhnlich stand Sonja dann auf und führte Mischa freundlich ins Schlafzimmer, wo er vor dem Spiegel sein Ebenbild betrachtete. Es erstaunte Viktor, wie leicht Sonja mit dem Tier umgehen konnte. Aber eigentlich war daran nichts Erstaunliches, verbrachte das Mädchen doch entschieden mehr Zeit mit dem Pinguin als Viktor. Sie war sogar ein paarmal allein mit ihm am Abend auf dem Platz mit den Taubenschlägen spazierengegangen.
Eines Abends klingelte es an der Wohnungstür. Viktor sah durch den Spion und erschrak, als er einen völlig unbekannten Mann erblickte. Er dachte sofort an die Fotos mit den beiden ermordeten jungen Männern, die ihn gesucht hatten. Der etwa vierzigjährige Mann vor der Tür seufzte tief und drückte wieder auf den Klingelknopf. Die Klingel schrillte direkt über Viktors Kopf. Der hielt den Atem an.
Hinter Viktors Rücken knarrte die Tür und Sonja rief laut in die Stille hinein.
»Mach auf! Da klingelt jemand!«
Wieder schrillte die Klingel. Dazu hämmerte der Unbekannte mit der Faust gegen die Tür.
»Wer ist da?« fragte Viktor nervös.
»Mach auf! Hab keine Angst!« hörte er hinter der Tür.
»Zu wem wollen Sie?«
»Na zu dir, zu wem denn sonst! Wovor hast du Angst? Ich komme wegen Mischa!«
Viktor legte seine Hand auf die Klinke, versuchte blitzschnell zu begreifen, welchen der beiden Mischas dieser Mensch wohl meinte. Nein, der Pinguin hatte damit sicher nichts zu tun. Schließlich machte er die Tür auf.
In den Flur trat ein hagerer, unrasierter, spitznasiger Mann in einer chinesischen Daunenjacke, eine schwarze Strickmütze auf dem Kopf. Er zog einen mehrfach gefalteten Zettel aus der Tasche und überreichte ihn Viktor.
»Das ist meine Visitenkarte«, sagte er und grinste.
»Viktor faltete den Zettel auseinander. Ihn überlief ein Schauder: das war sein eigener Text, der Nekrolog für Sergej Tscherkalin, den Freund-Feind von Mischa-Nicht-Pinguin.
»Na, kennst du mich jetzt?« fragte der Besucher kühl.
»Sie sind Sergej?« fragte Viktor und sah sich nach Sonja um, die immer noch in der Tür stand. »Geh ins Zimmer!« befahl er ihr streng und wandte sich wieder dem Besucher zu.
»Ja, ich bin Sergej –« sagte der Besucher. »Was ist, können wir uns setzen, ich habe was mit Ihnen zu besprechen…«
Viktor ging mit Sergej in die Küche, wo der sich sofort auf Viktors Lieblingsplatz setzte. Viktor blieb nichts anderes übrig, als gegenüber Platz zu nehmen.
»Ich habe schlechte Neuigkeiten«, sagte der Besucher. »Leider ist Mischa hopsgegangen… Und ich will seine Tochter holen… Sie muß nicht mehr versteckt werden… Klar?«
Die Worte seines Besuchs kamen langsam und bruchstückhaft bei Viktor an. Er brachte die Grundlage der beiden Informationen nicht zusammen: daß Mischa tot war und daß dieser Mensch ihm jetzt Sonja wegnehmen wollte. Ein stechender Schmerz durchbohrte seinen Kopf; er faßte sich an die Stirn und spürte die Kälte seiner eigenen Hand.
»Wie ist er umgekommen?« fragte Viktor plötzlich und starrte völlig verwirrt auf die Tischplatte.
»Wie?« fragte Sergej verwundert. »Wie alle… tragisch…«
»Und weshalb wollen Sie Sonja abholen?« fragte Viktor nach einer kleinen Pause, in der er ein wenig Ordnung in seine Gedanken bringen konnte.
»Ich war sein Freund…«, antwortete der Besucher. »Es ist meine Pflicht, mich um sie zu kümmern.«
Viktor schüttelte den Kopf und sah vor sich hin. Der Besucher starrte ihn verwundert an.
»Nein«, sagte Viktor unerwartet barsch. »Mischa hat mich gebeten, mich um sie zu kümmern…«
»Hör zu«, sagte der Besucher mit müder Stimme. »Bei all meiner Wertschätzung für dein
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