Picknick auf dem Eis (German Edition)
nächtliche Schlaflosigkeit machte ihn nervös.
Viktor bemühte sich, Nina nicht zu wecken, stand auf, warf sich den Morgenmantel über und beugte sich im Wohnzimmer über Sonja.
Sonja schlief unruhig und schluchzte im Schlaf.
Nachdem er ein paar Minuten bei ihr gestanden hatte, ging er in die Küche, machte die Tür hinter sich zu und setzte sich, ohne das Licht anzumachen, an den Tisch.
Die Dunkelheit und die Stille um ihn herum ließen das gleichmäßige Ticken des alten Weckers auf dem Fensterbrett unheimlich laut werden. Es wurde plötzlich so laut, daß Viktor verwirrt auf diese kleine Geräuschquelle im Halbdunkel starrte. Er wollte den Wecker zum Schweigen bringen, nahm ihn in die Hand, hob ihn hoch. Viktor brauchte völlige Stille, aber das Ticken wurde immer lauter. Und als ihm klar wurde, daß er die Zeit nicht anhalten konnte, trug er den Wecker auf den Flur, stellte ihn auf den Boden neben die Wohnungstür und kehrte in die Küche zurück.
Er horchte, und als er kein noch so entferntes Geräusch mehr hörte, beruhigte er sich.
Im Haus gegenüber brannte in einem Fenster noch Licht. Viktor sah hinüber und erblickte in diesem Fenster eine Frau.
Sie saß am Tisch und las. Obwohl ihr Gesicht nicht zu erkennen war, fühlte Viktor plötzlich eine solche Wärme und so viel Mitgefühl für sie, als ob sie seine Leidensgefährtin wäre.
Er betrachtete sie, ihre unbewegliche Haltung: Sie hatte das Kinn auf die Hände gestützt, und nur ab und zu blätterte sie mit der rechten Hand eine Seite um.
In einem gewissen Moment kam es ihm so vor, als sei es draußen heller geworden, und als er rausguckte, sah er einen blaßgelben Halbmond hinter den Wolken hervorkommen, der aber gleich wieder hinter unsichtbaren Wolken verschwand.
Sein Blick kehrte zu dem erleuchteten Fenster zurück. Jetzt stand die Frau am Herd und setzte den Teekessel auf. Dann kehrte sie wieder an den Tisch zurück und las weiter in dem Buch.
›Bloß gut, daß es aufgehört hat zu regnen‹, dachte Viktor plötzlich, als er sich an die zitternden Regentropfen an der Fensterscheibe erinnerte.
Er starrte auf die geschlossene Küchentür und erinnerte sich an Mischas Angewohnheit, zunächst die Tür aufzustoßen und einen Augenblick auf der Schwelle stehen zu bleiben, bevor er zu ihm kam und seine Brust an seine Knie schmiegte. Was hätte er darum gegeben, daß jetzt die Tür aufginge und der Pinguin auf der Schwelle stünde.
Nach einer halben Stunde kehrte er leise ins Schlafzimmer zurück, kroch wieder unter die Decke, und beim Einschlafen hörte er das leise Schluchzen der schlafenden Sonja.
Am Morgen weckte ihn Nina.
»Heute nacht war wieder jemand da…«, sagte sie aufgeregt.
»Was ist?« fragte Viktor verschlafen. »Haben sie wieder was gebracht?«
»Nein«, sie schüttelte den Kopf. »Aber sie haben den Wecker vor die Tür im Flur gestellt.«
»Ach so«, murmelte Viktor beruhigend. »Nein, das war ich…«
»Wieso?« wunderte sich Nina.
»Er hat so laut getickt…«, antwortete Viktor und tauchte wieder in einen Halbschlaf, ohne Ninas fragenden und verständnislosen Blick zu bemerken.
Gegen elf wachte er auf. In der Wohnung war es still. Draußen schien die Sonne.
In der Küche fand er sein Frühstück und einen Zettel.
»Wir kommen bald wieder. Wir sind nur spazieren. Nina.«
Nachdem sich Viktor gewaschen hatte, nahm er die Visitenkarte, die ihm der Tierarzt dagelassen hatte, und rief an.
»Kann ich Ilja Semjonowitsch sprechen?«
»Ja, am Apparat«… antwortete eine sanfte Samtstimme.
»Ich bin der Besitzer von Mischa… dem Pinguin…«
»Guten Tag«, hörte er die Stimme des unsichtbaren Ilja Semjonowitsch. »Ja, was kann ich Ihnen sagen? Erst mal… er hat eine Grippe mit ernsthaften Komplikationen. Heute abend machen wir eine Tomographie, dann werden wir Genaueres wissen…«
»Und wie geht es ihm jetzt?« fragte Viktor.
»Ich fürchte, genauso wie vorher.«
»Darf man ihn besuchen?«
»Leider nein. Das ist bei uns nicht üblich. Haben Sie ein bißchen Geduld. Sie können jeden Tag anrufen, ich werde Sie auf dem laufenden halten«, versprach Ilja Semjonowitsch zum Schluß.
Viktor ging in die Küche zurück, aß zwei kalte gekochte Eier, trank Tee und zog die Schreibmaschine unter dem Tisch hervor. Immer noch steckte die Seite mit dem unvollendeten Nachruf für einen gewissen Bondarenko drin, den Direktor des privaten Beerdigungsunternehmens ›Broadway‹. Die bittere Ironie ließ Viktor lächeln. Er
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