Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Picknick auf dem Eis (German Edition)

Picknick auf dem Eis (German Edition)

Titel: Picknick auf dem Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
Vom Netzwerk:
Freundschaftsdenkmal zweier Nationen, die Ruinen der Philharmonie, ein Reklameplakat, auf dem ein französisches Shampoo in schaumigen Strömen niederrieselte. »Um Ihre Haare wird man Sie beneiden!«
    Unter dem Plakat hielt ein völlig überfüllter Autobus. Einige Passagiere stiegen aus, und der Bus fuhr sofort wieder an. An der Haltestelle blieb eine verärgerte Menschenmasse zurück. Der Autobus bog nach rechts ab.
    Viktor wandte sich ebenfalls in diese Richtung, kam an der ›Bacchus-Bar‹ vorbei und trat ein.
    Er bestellte sich ein Glas trockenen Roten, nippte am Wein und seufzte.
    ›Warum ausgerechnet das Herz eines Kindes?‹ dachte er. ›Warum nicht das Herz eines Hundes? Oder eines Schafs?‹
    Am Nachbartisch gossen einige junge Leute Wodka in ihr Bier.
    Viktor nahm noch einen Schluck und genoß die angenehme Herbheit des Weins. Seine Aufregung und die nervöse Spannung wichen bald einer wohltuenden Ruhe.
    ›In der Tat‹, dachte er weiter, ›hat ein Pinguin sehr viel mehr mit dem Menschen gemein als ein Hund oder ein Schaf. Beide, der Mensch und der Pinguin, laufen auf zwei Beinen und nicht auf allen vieren… Und im Unterschied zum Menschen hatte der Pinguin anscheinend nie vierbeinige Vorfahren.‹
    Viktor erinnerte sich an Pidpalyjs Manuskript, das einzige, was er je in seinem Leben über Pinguine gelesen hatte. Pidpalyj hatte herausgefunden, daß bei den Pinguinen die Väter die Jungen großziehen und die Männchen ihren Weibchen jahrelang treu bleiben; daß sich die Pinguine hervorragend nach der Sonne orientieren können und daß sie einen angeborenen Gemeinschaftssinn haben… Da kam ihm wieder Pidpalyjs Wohnung in den Sinn, der Geruch von Rauch… Dann kehrten seine Gedanken zu Mischa zurück.
    Viktor trank das Glas aus und bestellte sich ein zweites. Die Gruppe junger Leute verließ torkelnd die Bar. Viktor blieb allein. Er sah auf die Uhr – halb eins. Die Sonne schien in die Bar, ihre Strahlen brachen sich in Viktors Glas und bildeten auf dem Tisch kleine zerstreute Schattenmuster.
    ›Man muß ihn operieren‹, dachte er leicht beschwipst. ›Sollen sie ruhig alles allein erledigen! Das Geld müßte reichen. Außerdem könnte ich noch was aus der Tasche auf dem Schrank nehmen. Macht nichts, daß es Sonja gehört…‹
    Als er nach Hause kam, legte er sich, ohne zu Mittag zu essen, ins Bett. Nina und Sonja waren nicht da.
    Gegen vier Uhr wachte er auf. Sein Schädel dröhnte. Er kochte sich Kaffee und setzte sich auf seinen Platz.
    Als das Dröhnen im Kopf nachließ und der Kaffee ihn ein wenig munter gemacht hatte, dachte er wieder über Mischa nach. Mit dem Schwips war auch seine Zuversicht verschwunden. Er zog seine Schreibmaschine unter dem Tisch hervor und versuchte, sich mit Arbeit abzulenken. Der morgendliche Anruf des Chefs fiel ihm wieder ein. ›Ja‹, dachte er. ›Er hat recht. Ich muß mich bessern‹ … und er blieb regungslos vor dem leeren weißen Blatt Papier sitzen, das auf seinen Text wartete.
    Er nahm die Aktenmappe und las in den Dossiers nach. Es war nur noch ein ›Kreuzchen‹ übrig.
    Bald darauf kamen Nina und Sonja zurück.
    »Wir waren bei Sergejs Mutter«, sagte Nina, während sie Sonja auszog. »Sie macht sich große Sorgen, Sergej hat schon zwei Wochen lang nicht angerufen…«
    »Wie geht es Mischa?« fragte Sonja, die auf Socken in die Küche kam.
    »Zieh dir Hausschuhe an!« sagte Viktor streng. »Der Arzt hat versprochen, ihn gesund zu machen!« rief er Sonja hinterher, die gehorsam ihre Hausschuhe aus dem Schränkchen im Flur herauszog. »Aber erst mal muß er noch im Krankenhaus bleiben…«
    »Können wir ihn besuchen?« fragte Sonja.
    »Nein«, antwortete Viktor. »Menschen lassen sie da nicht rein…«
    66
     
    Am nächsten Tag rief Viktor die Klinik nicht an. Er hatte seinen letzten Nekrolog geschrieben und wartete auf den Boten des Chefs.
    Nina und Sonja waren spazieren, und Viktor nutzte ihre Abwesenheit, um Sonjas Geld zu zählen: es waren vierzigtausend Dollar und ein paar zerquetschte. Er schob das Päckchen wieder an seine Stelle auf den Schrank. Dann zählte er sein eigenes Geld, wovon allerdings den größten Teil der Pinguin verdient hatte. Fast zehntausend.
    »Ich muß anrufen…«, flüsterte er sich selber zu, und in dem Moment klingelte es an der Haustür.
    Ein schweigsamer Bote, vermutlich ein Rentner, in einem alten Mantel, nahm die Mappe entgegen, steckte sie in seine Tasche, überreichte Viktor eine neue, nickte ihm knapp zu und

Weitere Kostenlose Bücher