Picknick auf dem Eis (German Edition)
Erstaunlichste war: diese Veränderung hatte nicht einmal Einfluß auf das Honorar. Viktor bekam jedes Mal wieder einen ›Riesen‹, nur daß er es leichter hatte, ohne die obligatorischen Trauerfeiern und das Ausharren am Grab. Jetzt verdiente Mischa allein das Geld. Es war fast wie eine richtige Vermietung des Pinguins.
Wenn Viktor über sein Gehalt von dreihundert Dollar monatlich und über Mischas jeweiliges Honorar nachdachte, ärgerte er sich natürlich. Selbst die Tatsache, daß sowieso beide Summen in ein und dieselbe Tasche flossen – nämlich in seine –, milderte nicht die offensichtliche Disproportion. Aber hier blieb Viktor nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden, also wieder einmal vor der Unausweichlichkeit der Tatsachen zu kapitulieren. Doch beeinträchtigte seine Verbitterung darüber keineswegs die Zuneigung, die er für den Pinguin hegte.
›Vielleicht sollte ich den Chef um eine Gehaltserhöhung bitten?‹ dachte er, aber seine Intuition riet ihm sofort davon ab. Schließlich arbeitete er ziemlich leger, und niemand trieb ihn mit diesen ›Kreuzchen‹ zur Eile. Er war sein eigener Herr; hatte er eine Portion fertig, rief er an und tauschte mit dem Boten die Mappen. Mit seinem Lohn kam er auch aus, er konnte sich wirklich über nichts beklagen.
›Nein, es ist alles normal, und gebe Gott, daß alles so bleibt‹, dachte er. ›Und irgendwann hört es auch auf zu regnen und ich kann anfangen, ein Häuschen im Grünen zu suchen.‹
Als er sich im Geiste ein Häuschen mitten in einem Garten ausmalte, mit einer Hängematte zwischen zwei starken Bäumen und sich selber sah, wie er ein Feuer entfachte, mußte er unwillkürlich lächeln.
›Alles wird gut‹, überzeugte ihn seine Einbildung. ›Alles wird schön und das Leben voller Sonne sein.‹
Und er glaubte daran.
Aber es regnete weiter. Weiter ging auch seine Arbeit an den ›Kreuzchen‹. Und ohne Rücksicht auf das Wetter wurden die Beerdigungen, an denen Mischa teilnehmen mußte, immer häufiger, als wenn die Sterblichkeit unter den Menschen, deren Freunde oder Verwandte sich keine Beerdigung mehr ohne den Pinguin vorstellen konnten, erheblich gestiegen wäre.
An einem Tag nach einer solchen Beerdigung, als Viktor den Inhalt einer neuen Mappe studierte, kam Sonja entsetzt in die Küche gerannt.
»Onkel Witja, Mischa niest!« rief sie.
Viktor lief ins Schlafzimmer und sah zum ersten Mal einen liegenden Pinguin. Mischa lag seitlings auf seiner Kamelhaardecke und zitterte. Von Zeit zu Zeit röchelte er.
Viktor war zutiefst erschrocken. Er starrte Mischa an und wußte nicht, was er tun sollte.
»Nina!« rief er.
»Nina ist bei Sergejs Mutter«, teilte Sonja mit.
»Halte durch, halte durch!« ermahnte Viktor den Pinguin mit zitternder Stimme und streichelte ihn. »Irgendwas wird uns schon einfallen…«
Im Wohnzimmer schlug er das Telefonbuch auf, und als er ohne besondere Hoffnungen unter dem Buchstaben V suchte, fand er zu seiner Verwunderung nicht weniger als zehn Nummern von privaten Veterinären. Aber zugleich kamen ihm Zweifel: Woher sollten diese Tierärzte Erfahrung mit Pinguinen haben? Eher waren sie Hunde- und Katzenspezialisten.
Ungeachtet seiner Zweifel wählte er die erstbeste Nummer.
»Guten Tag, könnte ich Nikolaj Iwanowitsch sprechen?« sagte er zu der Frau am Telefon und prüfte damit gleichzeitig, ob er auch richtig verbunden war.
»Einen Augenblick«, sagte die Frau.
»Ja, bitte«, erklang sofort eine Männerstimme im Hörer.
»Entschuldigen Sie, ich habe ein Problem…«, begann Viktor. »Mein Pinguin ist krank geworden…«
»Ein Pinguin?« wiederholte die Männerstimme, und Viktor erriet am Ton, daß er nicht an die richtige Adresse geraten war. »Wissen Sie, das ist nicht mein Fachgebiet, aber ich kann Ihnen sagen, an wen Sie sich wenden müssen…«
»Ja, gern!« Viktor atmete tief aus. »Bitte! Ich hole mir nur einen Bleistift!«
Er fand einen neben dem Telefon und schrieb die Nummer eines Dawid Janowitsch gleich ins Telefonbuch und wählte, ohne den Hörer aufzulegen sofort anschließend die Nummer.
Als Dawid Janowitsch Viktor zu Ende angehört hatte, sagte er: »Wenn Sie so ein Tier haben, dann haben Sie wohl auch das Geld für die Behandlung. Also gut, geben Sie mir Ihre Adresse!«
»Was ist, kommt der Arzt?« fragte Sonja, als Viktor zu Mischa zurückkam und sich neben ihn auf den Boden setzte.
»Ja, er kommt.«
»Ist er so wie Doktor Ajbolit?« fragte sie traurig. Nicht einmal
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