Picknick auf dem Eis (German Edition)
Semjonowitsch zur Theke und klopfte laut auf den Tisch.
»Noch einen Kaffee!« sagte er zu der aus dem Hintergrund erscheinenden Frau und wandte sich Viktor zu.
»Nun, wie sieht es aus?« fragte Viktor.
Ilja Semjonowitsch seufzte.
»Ihr Zögling hat einen angeborenen Herzfehler«, sagte er. »Jeder wirksame und damit radikale Versuch, seine Grippe zu behandeln, kann ihn töten… Aber auch ohne Grippe hat er kaum eine Chance. Es sei denn…« Und Ilja Semjonowitsch sah Viktor abwartend in die Augen.
»Geht es um Geld?« versuchte Viktor zu raten.
»Um Geld auch«, fuhr Ilja Semjonowitsch fort. »Aber es gibt eine prinzipielle Frage. Eine Frage an Sie. Ich weiß nicht, wie wichtig Ihnen das Tier ist?«
»Sie können den Kaffee abholen!« rief plötzlich hinter Viktors Rücken die Frau hinter der Theke.
Als Viktor seine Tasse abholte, war die Barfrau schon wieder verschwunden.
»Sagen Sie einfach, wieviel das kosten kann«, bat er den Arzt.
»Also gut. Ich versuche es Ihnen einfacher zu erklären.« Ilja Semjonowitsch holte tief Luft, als wolle er ganz lange den Atem anhalten. »Die einzige Chance für Ihren Pinguin ist eine Herzoperation. Oder genauer, er braucht eine Herztransplantation.«
»Aber wie das denn?« Viktor sah den Arzt fassungslos an. »Woher kriegen Sie denn das Herz von einem anderen Pinguin?«
»Das ist eben die grundsätzliche Frage.« Ilja Semjonowitsch nickte. »Ich habe mich mit den Professoren der Kardiologie an der Uniklinik beraten… Wir sind zu dem Schluß gekommen, daß man ihm das Herz eines drei- bis vierjährigen Kindes einpflanzen kann…«
Viktor verschluckte sich und verschüttete etwas Kaffee, als er die Tasse abstellte.
»Das kann zumindest bei einem positiven Verlauf der Operation sein Leben um einige Jahre verlängern. Sonst…« Und Ilja Semjonowitsch hob hilflos die Arme. »Und um gleich auf alle Ihre möglichen Fragen zu antworten: die Operation kostet Sie nur 15 000 Dollar. Das ist nicht viel. Das Spenderherz? Hier können Sie über Ihre eigenen Kanäle etwas suchen, oder wenn Sie Vertrauen zu uns haben, suchen wir uns selber eins. Im Moment würde es mir schwerfallen, einen Preis zu nennen. Es kommt sogar vor, daß wir die Organe völlig umsonst bekommen…«
»Über meine eigenen Kanäle?« wiederholte Viktor verblüfft. »Was meinen Sie damit?«
»Ich meine, es gibt in Kiew mehrere Kinderkrankenhäuser, und in jedem Krankenhaus befindet sich eine Reanimationsstation«, sagte Ilja Semjonowitsch ruhig. »Sie können zu den Ärzten gehen, nur sagen Sie nicht, daß Sie das Organ für einen Pinguin brauchen. Sagen Sie einfach, daß Sie unbedingt das Herz eines drei- bis vierjährigen Kindes für eine Transplantation suchen. Versprechen Sie eine hohe Belohnung. Dann werden die Ärzte Sie auf dem laufenden halten…«
»Nein!« Viktor schüttelte den Kopf.
»Was, nein?« fragte Ilja Semjonowitsch. »Na schön. Sie sollten das alles in Ruhe überdenken. Meine Telefonnummer haben Sie ja. Das einzige, um was ich Sie bitte, denken Sie nicht zu lange nach. Außerdem kostet jeder Tag Geld… Also, ich warte auf Ihren Anruf!«
Ilja Semjonowitsch verabschiedete sich und überließ Viktor seinen Gedanken.
Viktor hatte keine Lust, den kalten Kaffee auszutrinken. Er verließ ebenfalls das Café und schlenderte durch den Kreschtschatik-Park in die Richtung des Hauptpostamtes.
Die Sonne schien, aber er bemerkte es nicht einmal. Auch die Leute, die an ihm vorübergingen, nahm er nicht wahr. Und selbst als ihn ein junger Mann in der Unterführung anrempelte, drehte er sich nicht um. Er seinerseits rempelte eine Zigeunerin an, die versuchte, ihn um Geld anzubetteln.
›Irgendwas stimmt nicht in diesem Leben‹, dachte er, während er durch die Straßen lief. ›Das Leben hat sich verändert und ist nur rein äußerlich wie früher, einfach und verständlich. Innen drin ist der Mechanismus kaputtgegangen, und jetzt weiß man nicht mehr, was man von den vertrauten Dingen halten soll. Vom Laib eines ukrainischen Brots bis zur Telefonzelle auf der Straße. Irgend etwas Fremdes und Unsichtbares versteckt sich hinter jeder bekannten Oberfläche, in jedem Baum, in jedem Menschen. Es kommt einem bloß so vor, als kenne man das alles seit der Kindheit.‹
Als er am ehemaligen Leninmuseum vorbeikam, blieb Viktor stehen, sah sich nach allen Seiten um, als suche er in der bekannten Stadt früher nicht wahrgenommene Details. Er fixierte das hinter der Parktreppe sichtbare
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