Picknick auf dem Eis (German Edition)
stellte sich vor, wie superprofessionell das Begräbnis dieses Menschen sein würde. Im Geiste sah er dessen Kollegen vor sich, die unterwürfig um den prächtigen Sarg mit vergoldeten Griffen standen.
›Und was war da noch gleich unterstrichen?‹ fragte er sich plötzlich, denn er erinnerte sich an nichts mehr aus dem Dossier über diesen Bondarenko.
Er überflog die unterstrichenen Zeilen auf den drei Seiten des Dossiers.
»1995 organisierte Wjatscheslaw Bondarenko die Beerdigung von einigen nicht identifizierten, verstümmelten Leichen in einem Massengrab auf dem Dorffriedhof von Belogorodok. Es gibt Gründe zur Annahme, daß sich unter den Beerdigten auch die Körper des am Vorabend verschwundenen Kapitäns Golowatko von der Abteilung ›Kampf gegen das organisierte Verbrechen‹ und des Majors des Geheimdienstes Protschenko befanden. Bondarenko steht unter dem Verdacht, noch mehrere solcher Beerdigungen in den Dörfern des Kiewer Landkreises organisiert zu haben, und zwar in den Jahren 1992, 1993 und 1994.«
Viktor war nicht mehr nach Ironie zumute. Er stand auf, kochte sich Kaffee und ging auf den Balkon.
Um sich wenigstens fünf Minuten von dem Beerdigungsthema abzulenken, versuchte er, am gegenüberliegenden Haus das Fenster herauszufinden, das in der vorigen Nacht noch erleuchtet war. Aber jetzt bei vollem Tageslicht sahen sie alle gleich aus.
65
Auch der nächste Morgen begann mit einem Anruf in der Klinik Teofania. Aber Ilja Semjonowitsch war nicht an seinem Platz, und Viktor konnte der neben ihm wartenden Sonja nichts Neues sagen. »In einer halben Stunde rufe ich nochmal an!« versprach er ihr.
Sonja ging schweigend zur Balkontür.
»Wollen wir heute abend in den Zirkus gehen?« sagte er zu Nina herabgebeugt.
Sonja schüttelte den Kopf.
Viktor wollte in die Küche an seine Arbeit, als das Telefon wieder klingelte. Sonja und Nina drehten sich zu ihm um, Viktor nahm den Hörer ab, ebenfalls vermutend, daß die Klinik ihn anriefe, aber es war der Chefredakteur.
Igor Lwowitsch war offensichtlich verärgert. »Ich habe dich nicht gebeten, philosophische Meisterwerke zu verfassen!« schrie er fast. »Liefere mir einen einfachen professionellen Text, aber bitte schnell! Ich kann nicht eine ganze Woche warten, bis ich von dir fünf oder sechs Texte bekomme!…«
Viktor hörte dem Chef zu und nickte düster.
»Hast du verstanden, was ich gesagt habe?« fragte der Chef schon etwas milder, anscheinend ärgerte er sich über seine eigene Gereiztheit.
»Ja«, sagte Viktor und legte auf. Er hatte sich daran gewöhnt, daß die Telefongespräche mit dem Chef rein geschäftlich waren, sogar ohne »Guten Tag« und »Auf Wiedersehen«.
»Wer war das?« fragte Nina von der Balkontür aus.
»Meine Zeitung…«, seufzte Viktor und nahm den Hörer wieder in die Hand.
Er wählte die Nummer der Klinik.
Diesmal war Ilja Semjonowitsch gleich am Apparat.
»Wir müssen uns treffen«, sagte er, und Viktor hörte nichts Gutes in seiner Stimme.
»Soll ich zu Ihnen kommen?« fragte Viktor.
»Nein, das lohnt sich nicht. Wir treffen uns lieber in der Stadt. Um elf im Café ›Alt-Kiew‹ auf dem Kreschtschatik-Platz.«
»Und wie erkenne ich Sie?« fragte Viktor.
»Ich glaube nicht, daß da viele Leute sind«, sagte Ilja Semjonowitsch. »Aber für alle Fälle: Ich werde einen grauen Mantel anhaben und eine Tweedmütze. Ich bin nicht sehr groß, mager, habe einen Schnauzbart…«
»Was ist?« fragte Sonja voller Ungeduld.
»Es geht ihm besser«, log Viktor. »Ich fahre jetzt gleich zum Arzt und werde alles ganz genau erfahren…«
In Wirklichkeit hatte er eine böse Vorahnung. Wieso sonst dieses Gespräch mit Ilja Semjonowitsch auf dem Kreschtschatik? Für gute Nachrichten hätte doch ein Telefongespräch gereicht. Oder wollte der Tierarzt vielleicht über Geld reden? Bis jetzt hatte Viktor noch überhaupt nichts bezahlt – und ein Tag in der Klinik kostete fünfzig Dollar.
Der Gedanke, es könne sich bei dem Gespräch im Café vielleicht um Geld handeln, beruhigte Viktor ein wenig.
Draußen schien wieder die Sonne. Neben dem Eingang spielten zwei Mädchen Himmel und Hölle, und Viktor mußte um sie herumgehen.
Als er hinunter in das Kellercafé kam, wartete Ilja Semjonowitsch schon auf ihn. Er stand an einem hohen Tisch, vor sich eine Tasse Kaffee. Sonst war niemand in dem Café. Selbst hinter der Theke mit der Kaffeemaschine war niemand zu sehen.
Nachdem er Viktor begrüßt hatte, ging Ilja
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