Picknick auf dem Eis (German Edition)
der Gedanke an das Märchen von Tschukowskij konnte sie aufheitern.
Viktor nickte.
Nach einer halben Stunde kam Dawid Janowitsch, ein glatzköpfiger, kleiner Mann mit einem Dauerlächeln und gütigen Augen.
»Nun, wo ist der Patient?« fragte er, während er sich im Flur die Schuhe auszog.
»Dort.« Viktor wies auf das Zimmer. »Möchten Sie Hausschuhe?«
»Danke, nicht nötig!« Dawid Janowitsch hängte schnell seinen Mantel auf einen Bügel und ging mit seiner Tasche in der Hand zur Tür, seine Socken hinterließen nasse Spuren auf dem Linoleum.
»So so«, nickte er und hockte sich neben Mischa.
Er betastete den Pinguin und sah ihm in die Augen. Wie ein gewöhnlicher Arzt horchte er den Pinguin mit einem Stethoskop vorn und hinten ab. Dann sah er Viktor nachdenklich an, während er sein Stethoskop wieder einsteckte.
»Was hat er?« fragte Viktor.
Dawid Janowitsch kratzte sich im Nacken und seufzte.
»Das ist schwer zu sagen, aber klar ist, daß es nichts Gutes ist«, wandte er sich an Viktor. »Ich fürchte, alles hängt von Ihren finanziellen Möglichkeiten ab… Aber glauben Sie bloß nicht, daß ich von meinem Honorar spreche! Ich kann Ihnen hier kaum helfen. Er muß in eine Klinik…«
»Und wieviel wird das kosten?« fragte Viktor vorsichtig.
Dawid Janowitsch hob hilflos bedauernd die Hände.
»Das kostet ganz schön. Daran besteht kein Zweifel. Wenn Sie meinem Rat folgen und ihn in die Klinik in Teofania bringen, dann kostet das fünfzig Dollar pro Tag. Dafür haben Sie aber die Garantie, daß dort alles nur Mögliche getan wird. Daneben befindet sich das Universitätskrankenhaus, und die Klinik benutzt zeitweise deren Tomographie, noch eine Garantie für eine richtige Diagnose. Und viele gute Ärzte des Krankenhauses verdienen sich dort was dazu…«
»Gewöhnliche Ärzte?« wunderte sich Viktor.
»Wieso nicht?« Dawid Janowitsch zuckte mit den Schultern. »Glauben Sie, daß Tiere andere innere Organe haben? Sie haben manchmal andere Krankheiten, das ja, aber sonst… Was ist, soll ich die Klinik anrufen und einen Wagen kommen lassen?«
Viktor war einverstanden.
Dawid Janowitsch nahm für seinen Besuch nur zwanzig Dollar und ging. Nach einer Stunde kam ein anderer Tierarzt. Auch der untersuchte Mischa, horchte und tastete ihn ab.
»In Ordnung, wir nehmen ihn mit«, sagte er zu Viktor. »Wir betrügen Sie nicht, keine Angst. Für die Diagnose brauchen wir drei Tage. Dann ist alles klar: Wenn wir ihn heilen können, werden wir das tun, und wenn nicht…«, er hob die Arme, »… bringen wir ihn zurück, damit Sie Ihr Geld sparen. Hier, stecken Sie das ein.« Er überreichte Viktor eine Visitenkarte. »Das ist nicht meine, sondern die von Iljitsch Semjonowitsch, der sich um Ihren Zögling kümmern wird…«
Der Tierarzt fuhr wieder weg, und an Mischas Stelle blieb nur des Doktors Visitenkarte.
Sonja weinte. Draußen regnete es immer noch. In der Schreibmaschine steckte eine Seite mit einem unvollendeten Nachruf, aber Viktor war nicht nach Arbeit zumute. Wie bei einer Kettenreaktion stiegen auch ihm Tränen in die Augen, und er stand im Schlafzimmer am Fenster, drückte die Beine an die Heizung und sah durch seine Tränen auf die Regentropfen, die versuchten, an der Fensterscheibe klebenzubleiben. Die Tropfen zitterten unter den Windstößen und rannen zu guter Letzt irgendwo auf die Seite. An ihrer Stelle fielen neue Tropfen und führten den sinnlosen Kampf gegen den Wind fort.
64
In der Nacht konnte Viktor nicht schlafen. Aus dem Wohnzimmer hörte er Sonjas Schluchzen. Die phosphoreszierenden Zeiger des Weckers waren auch in der Dunkelheit sichtbar und standen fast auf zwei Uhr. Nur Nina schnarchte leise im Schlaf.
Nachdem sie von Sergejs Mutter zurückgekommen war, erschrak sie natürlich, als sie die Neuigkeit hörte. Aber nachdem sie erfolglos versucht hatte, die weinende Sonja zu beruhigen, war sie ziemlich erschöpft, und sobald sie nur das Kopfkissen berührte, war sie auch schon eingeschlafen.
Ihr ruhiger Schlaf rief bei Viktor eine merkwürdige Verärgerung hervor. Einen Moment lang schien Nina ein völlig fremder Mensch zu sein, dem Sonja und er völlig gleichgültig waren, und Sonja schien ihm näher und vertrauter, als ob ihre Sorge um Mischas Leben sie beide einander ganz nahgebracht hätte.
Viktor betrachtete die mit dem Rücken zu ihm schlafende Nina. ›Nein‹, dachte er. Nicht ihr ruhiger Schlaf war der Grund für seine momentane Gereiztheit, sondern seine
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