Picknick mit Bären
westlich, aber es war unglaublich heiß und selbst hier oben schwül und stickig. Hinzu kam der steile Abstieg, 914 Meter auf fünf Kilometern, zum Glück durch dichten, kühlen, grünen Wald bis zu einer Nebenstraße, die weiter durch die offene schöne Landschaft führte.
Außerhalb des Waldes war die Luft drückend. Es ging drei Kilometer über eine Straße ohne ein Fleckchen Schatten, und der Asphalt war so heiß, daß ich die Hitze durch meine Schuhsohlen hindurch spürte. Als ich schließlich in Williamstown ankam, zeigte das Thermometer an einer Bank 36 Grad Celsius an. Kein Wunder, daß ich so schwitzte. Ich überquerte die Straße und ging zu Burger King, wo wir uns verabredet hatten. Welch ein Genuß, aus der Affenhitze eines Sommertages in die kühle, keimfreie Frische eines klimatisierten Restaurants zu treten. Wenn es einen besseren Grund gibt, dankbar dafür zu sein, daß man im 20. Jahrhundert lebt, dann kenne ich ihn nicht.
Ich holte mir ein großes Glas Cola, ließ mich an einem Tisch am Fenster nieder und fühlte mich durch und durch wohl. Ich hatte 27 Kilometer zurückgelegt, war bei sehr warmem Wetter über einen einigermaßen schwierigen Berg gestiegen. Ich war schmutzig, verschwitzt, verständlicherweise erledigt und stank so, daß sich die Leute nach mir umdrehten. Ich war wieder ein richtiger Wanderer.
1850 bestand New England zu 70 Prozent aus Ackerland und zu 30 Prozent aus Wald. Heute ist das Verhältnis genau umgekehrt. Wahrscheinlich gibt es in der entwickelten Welt keine Region, die in gerade mal einem Jahrhundert so dramatische Veränderungen erlebt hat, oder jedenfalls keine, die dem normalen Verlauf des Fortschritts zuwiderlaufen.
Wenn man sich für den Beruf des Farmers entschieden hat, gibt es eigentlich kein ungeeigneteres Land als New England. Der Boden ist steinig, das Gelände steil und das Wetter so schlecht, daß die Leute regelrecht stolz darauf sind. Ein Jahr in Vermont besteht, einem alten Sprichwort zufolge, aus »neun Monaten Winter, gefolgt von drei Monaten mit schlechten Rodelbedingungen«.
Bis Mitte des letzten Jahrhunderts überlebten die Farmer in New England nur wegen der Nähe zu den Küstenstädten Boston und Portland, und, so meine Vermutung, weil sie nichts anderes kannten. Dann geschahen zwei Dinge: erstens die Erfindung der McCormick-Mähmaschine, die sich ideal für die Bewirtschaftung der großen, kaum hügeligen Felder im Mittleren Westen eignete, aber auf den steinigen, schmalen Feldern New Englands völlig nutzlos war, und zweitens das Aufkommen der Eisenbahn, die den Farmern des Mittleren Westens die Möglichkeit gab, ihre Produkte praktisch ohne Zeitverlust in den Osten des Landes zu transportieren. Da konnten die New-England-Farmer nicht mithalten und wanderten vielfach in den Mittleren Westen ab. 1860 lebte fast die Hälfte aller in Vermont Gebürtigen woanders -200.000 von 450.000 Menschen.
1840, während des Präsidentschaftswahlkampfs, hielt Daniel Webster auf dem Stratton Mountain in Vermont eine Rede vor 20.000 Menschen. 20 Jahre später hätte er von Glück sagen können, wenn 50 Zuhörer gekommen wären. Stratton Mountain ist heute weitgehend von Wald bedeckt, nur wenn man genauer hinschaut, kann man hier und da noch Kellereingänge und die überwucherten Reste von Obstgärten erkennen, die sich in den schattigen »Untergeschossen« zwischen jüngeren, widerstandsfähigeren Birken, Ahorn- und Walnußbäumen behaupten. Überall in New England finden sich ehemalige, eingestürzte Einfriedungsmauern, häufig mitten im dichtesten Wald, der aussieht, als stünde er schon seit Jahrhunderten da – ein Zeichen dafür, wie geschwind sich die Natur das Terrain zurückerobert.
Ich erklomm Stratton Mountain an einem wolkenverhangenen, gnädigerweise kühlen Junitag. Es waren sechseinhalb Kilometer Fußweg zum Gipfel, der bei etwas über l .200 Meter liegt. In Vermont folgt der AT auf einer Länge von 160 Kilometern den Spuren des Long Trail, der sich über die höchsten und bedeutendsten Gipfel der Green Mountains bis hinauf nach Kanada zieht. Eigentlich ist der Long Trail sogar älter als der AT. Er wurde 1921 eröffnet, in dem Jahr, als man den AT konzipierte, und einige Long-Trail-Anhänger sollen noch heute auf den AT als einen ordinären und überehrgeizigen Parvenü herabschauen. Der Stratton Mountain wird jedenfalls stets als der geistige Geburtsort beider Pfade bezeichnet, denn hier hatten angeblich sowohl James E Taylor als auch Benton
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