Picknick mit Bären
soeben aus einer Trance erwacht und wüßte nicht, wie er hierher geraten wäre. Ein ganzer Schwärm Mücken umkreiste ihn.
»Können Sie mir sagen, wo der Trail weitergeht?« fragte er mich. Eine seltsame Frage, denn es war klar und deutlich zu erkennen, daß er einfach auf der anderen Seite weiterging. Direkt vor uns tat sich ein etwa ein Meter breiter Durchgang zwischen den Bäumen auf, und sollten noch Zweifel bestehen, leuchtete auf einer kräftigen Eiche die weiße Markierung des AT.
Ich wedelte zum tausendsten Mal an diesem Tag mit der Hand vor meinem Gesicht herum, um die Mücken zu verscheuchen, und deutete mit einem Kopfnicken auf den Durchgang. »Ich würde sagen, da.«
»Ach so, ja«, erwiderte er. »Natürlich.«
Wir traten gemeinsam den Weg durch den Wald an und unterhielten uns darüber, wo wir heute morgen aufgebrochen waren, was unser Ziel war und so weiter. Er war ein Weitwanderer, der erste, den ich so weit im Norden traf, und wollte, wie ich, heute noch bis nach Dalton. Er trug die ganze Zeit über eine unschlüssige, erstaunte Miene zur Schau und musterte die Bäume auf eigentümliche Weise, betrachtete sie immer wieder von oben bis unten, als hätte er so etwas noch nie in seinem Leben gesehen.
»Wie heißen Sie?« fragte ich ihn.
»Die Leute sagen Chicken John zu mir.«
»Chicken John!« Chicken John war eine Berühmtheit. Ich war ziemlich aufgeregt. Manche Leute auf dem Trail erlangen wegen irgendeiner besonderen Eigenart einen geradezu mythischen Status. Am Anfang unserer Wanderung hörten Katz und ich zum Beispiel dauernd von einem jungen Mann, der eine absolute Hightech-Ausrüstung besaß, wie man sie bislang noch nie gesehen hatte, unter anderem ein Zelt, das sich von allein aufstellte. Offenbar brauchte man nur einen Beutel zu öffnen, und es flog heraus, wie ein Schachtelteufelchen aus seinem Karton. Außerdem hatte er noch ein Satellitennavigationsgerät und verschiedenen anderen Hokuspokus. Das einzige Problem war, daß sein Kucksack am Ende über 40 Kilo wog. Er mußte aufgeben, bevor er Virginia erreicht hatte, deswegen haben wir ihn nie gesehen. Im Jahr zuvor hatte sich Woodrow Murphy, der dicke Wanderer, ähnlichen Ruhm erworben. Mary Ellen wäre diese Ehre sicher auch zuteil geworden, wenn sie nicht schon längst aufgegeben hätte. Dieses Jahr war also Chicken John dran – aber ich konnte mich beim besten Willen nicht mehr an den Grund dafür erinnern. Es war Monate her, daß ich in Georgia das erste Mal von ihm gehört hatte.
»Woher kommt der Name Chicken John?« fragte ich ihn.
»Das weiß ich ehrlich gesagt auch nicht«, sagte er, als hätte er sich die Frage auch schon oft gestellt.
»Wann sind Sie losgegangen?«
»Am 27 Januar.«
»Am 27 Januar?« sagte ich leise erstaunt und rechnete rasch im Kopf nach. »Das sind ja fast fünf Monate.«
»Das brauchen Sie mir nicht zu erzählen«, sagte er mit gespieltem Gram.
Er war seit fast einem halben Jahr unterwegs und hatte gerade erst Dreiviertel der Strecke nach Katahdin zurückgelegt.
»Wieviel -«, ich wußte nicht recht, wie ich mich ausdrücken sollte – »wie viele Kilometer laufen Sie am Tag, John?«
»Ach, 22 bis 23, wenn alles klappt. Allerdings« – er sah mich scheel an – »verlaufe ich mich oft.«
Genau. Das war’s. Chicken John verlief sich andauernd und kam an den unmöglichsten Stellen heraus. Es ist mir ein absolutes Rätsel, wie man sich auf dem Appalachian Trau verirren kann. Er ist der am deutlichsten und besten markierte Wanderpfad, den man sich vorstellen kann. Gewöhnlich ist es der Teil des Waldes, wo keine Bäume stehen. Wer zwischen Bäumen und einer langen, offenen Schneise unterscheiden kann, der dürfte keine Schwierigkeiten haben, sich auf dem AT zurechtzufinden. Wo auch nur die geringsten Unsicherheiten auftreten könnten, wenn der AT etwa auf einen Nebenwanderweg stößt oder eine Straße kreuzt, finden sich immer gut sichtbare Markierungen. Trotzdem verirren sich manche Leute: die berühmte Grandma Gatewood zum Beispiel, die unterwegs dauernd irgendwo anklopfte und sich erkundigte, wo sie sich denn gerade befände.
Ich fragte Chicken John, wie weit der längste Umweg war, den er mal gelaufen ist.
»60 Kilometer«, sagte er geradezu stolz. »Ich bin auf dem Blood Mountain in Georgia vom Trail abgekommen – ich weiß bis heute nicht, wie ich das geschafft habe – und bin drei Tage lang im Wald herumgeirrt, bis ich an einen Highway kam. Ich dachte schon, jetzt hätte ich mich
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