Picknick mit Bären
Schlupfwinkeln etwas Gespenstisches gaben. Als Walt Disney aus der Geschichte von Bambi einen Film machte, sollen die Bilder nach Vorlagen der Great North Woods in Maine entstanden sein, aber das hier war eindeutig kein Wald a la Disney, mit weiten Tälern und niedlichen Tieren. Dieser Wald erinnerte eher an den aus dem Film Der Zauberer von Oz, wo die Bäume häßliche Fratzen tragen und einem feindselig gesonnen sind und wo jeder Schritt Gefahr bedeutet. Das hier war ein Wald wie geschaffen für Bären, die hinter Bäumen lauern, Schlangen, die von Ästen herabbaumeln, Wölfen mit laserstrahlroten Augen, ein Wald voller seltsamer Geräusche, voller Schrecken – ein Ort, »an dem die Nacht haust«, wie Thoreau es so treffend ausgedrückt hat.
Wie üblich war der Trail sehr gut markiert, nur an manchen Stellen war er fast überwuchert von Farnkräutern und Buschwerk, das von den Wegrändern auf die Mitte hin zuwuchs und den eigentlichen Pfad auf eine kaum erkennbare Linie am Waldboden reduzierte. Da nur 10 Prozent der Weitwanderer es bis hierher schaffen und dieser Abschnitt für eine Tagestour zu weit entfernt ist, wird der Trail in Maine kaum frequentiert, so erobern die Pflanzen ihn wieder zurück. Was diesen Abschnitt des Trails allerdings besonders von den anderen unterscheidet, ist das Gelände. Im Profil sieht die Topographie des AT auf dem 29 Kilometer langen Abschnitt zwischen Monson und Barren Mountain recht anspruchslos aus, zieht sich in einer mehr oder weniger gleichbleibenden Höhe von 365 Metern hin, mit nur wenigen steilen An- und Abstiegen. In Wahrheit ist der Weg die Hölle.
Bereits nach einer halben Stunde kamen wir an eine Felswand, die erste von vielen, ungefähr 120 Meter hoch. Der Weg führte an der Vorderseite über eine Art Rinne nach oben, die wie ein Aufzugschacht aussah. Der Hang ragte fast senkrecht auf. Ein Grad mehr, und man hätte von einer Kletterwand sprechen müssen. Langsam und mühselig bahnten wir uns den Weg über Streinbrocken und zwischen ihnen hindurch, wobei wir Hände und Füße benutzten. Zu den Strapazen kam noch die schier unerträgliche Hitze. Ich mußte alle zehn, zwölf Meter anhalten, verschnaufen und mir den beißenden Schweiß aus den Augen wischen. Mir war schrecklich heiß, ich war schweißgebadet, geradezu in Schweißtücher gewickelt. Ich trank während des Aufstiegs meine Wasserflasche dreiviertel leer und benetzte mit dem Rest mein Stirnband, das ich mir zur Kühlung meines Kopfes, in dem es wie rasend hämmerte, umgebunden hatte. Ich fühlte mich überhitzt, und mir war schwindlig. Das konnte gefährlich werden. Ich legte häufigere und längere Ruhepausen ein, um mich zu erfrischen, aber jedesmal, wenn ich mich wieder erhob, kam die nächste Hitzewelle über mich. Ich hatte noch nie so hart und mühsam ackern müssen, um ein Hindernis auf dem Appalachian Trail zu überwinden, und das war gerade mal das erste von vielen, die noch folgen sollten.
Oben lag ein mehrere hundert Meter langer, kahler, sanft abfallender Granitfels vor uns. Es war, als würde man auf dem Rücken eines Wals Spazierengehen. Von jedem Gipfel aus bot sich ein sensationeller Ausblick – ein wogender grüner Wald, klare blaue Seen und einsame erhabene Berge, soweit das Auge reichte. Viele Seen waren riesig, und in den meisten hatte vermutlich noch nie ein Mensch gebadet. Ich hatte das wohlige Gefühl, in einen verborgenen Winkel der Erde einzudringen, aber bei dieser mörderischen Hitze konnte man sich diesem Gefühl unmöglich ganz hingeben.
Danach folgte ein schwieriger und zermürbender Abstieg über eine Felsklippe auf der anderen Seite, dann ein kurzer Gang durch ein dunkles Tal, das uns zur nächsten Felswand brachte. So verging der Tag mit gewaltigen Kletterpartien und der Hoffnung auf Wasser hinter dem nächsten Berg. Hauptsächlich diese Hoffnung hielt uns aufrecht. Katz hatte sein Wasser sehr schnell aufgebraucht; ich bot ihm von meinem an, was er dankbar und mit einem Blick, der um Waffenstillstand bat, annahm. Aber es lag noch immer etwas Unausgesprochenes zwischen uns, das schale Gefühl, daß sich etwas verändert hatte und daß es nie wieder so sein würde wie vorher.
Es war meine Schuld. Ich ging stur weiter, viel weiter als wir normalerweise gegangen wären und ohne mich mit ihm abzusprechen. Es war die heimliche Strafe dafür, daß er das Gleichgewicht zwischen uns zerstört hatte, und Katz ertrug sie schweigend und bußfertig. Wir legten 22,5 Kilometer zurück,
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