Piesberg in Flammen
Klassenkameraden. Sie alle wissen um die Geschichte. Sie weichen ihm aus, das kennt er schon.
Als der Junge und seine Mutter die Kapelle betreten, geht ein Raunen durch die Gemeinde, aber man ist in Trauer und hält sich zurück. Eine Glocke läutet, und irgendwo in ihrem Mechanismus schlägt ein Zahnrad die Zeit wie ein Metronom. Den Jungen amüsiert das. Er freut sich daran. Der Pastor versucht, dem Ganzen einen Sinn zu geben. Er spricht von der eigenen Schuld an dem Unglück und schlieÃt die Gemeinde mit ein. Er selbst habe Evelin gekannt und doch nicht gespürt, in welcher Not sie war.
Das Mädchen hat sich zu Tode geschämt, sagt er.
»Schau«, sagt der Junge zu seiner Mutter und weist mit dem Finger auf den Sarg.
Ein Mädchen aus Evelins Abiturklasse und ein Lehrer treten nach vorn, um ihr die Ehre zu erweisen. Sie legen ein Stofftier auf den Altar. Einen Bären. Evelins Eltern stellen ein gerahmtes Foto des Mädchens daneben.
Dann der Auszug aus der Kapelle. Die beiden gehen als Letzte. Vor dem Grab bildet sich eine lange Schlange. Jeder muss auf dem Weg zurück an den Wartenden vorbei. Niemand spricht den Jungen oder seine Mutter an.
Die scheint das alles nicht zu bemerken. Nur noch wenige Trauergäste stehen am Grab, als sie sich hinstellt und zu singen beginnt. Eine Stimme wie ein Geschenk des Himmels. Laut und voller Schmerz und Trauer. Eine Menge Trotz schwingt mit, das hat sie drauf. Es ist deutlich zu hören, wie sie sich auflehnt gegen das Böse in dieser Welt. Sie singt ein altes niederdeutsches Lied, das von einem Mädchen erzählt, das ihren Liebhaber ruft. Sie weist ihm den Weg, und nichts hält sie ab. Am Ende triumphiert die Liebe. Der Wind trägt die Stimme der Mutter über den Friedhof und schreckt die Trauergäste auf, die noch zwischen den Gräbern laufen, um eigene Verluste zu besuchen.
Da bückt sich der Junge und nimmt einen Stein vom Boden auf. Zwei streunende Hunde liegen in der Nähe, er wirft den Stein nach ihnen. Die Tiere schrecken laut heulend auf und stürzen davon.
Seine Mutter singt weiter, sie lässt sich nicht aufhalten. Widerwillig verlassen nun auch die letzten Gäste das Grab. Als das Lied endet, stehen Mutter und Sohn allein dort, nur die Eltern des Mädchens sind geblieben. Sie behaupten trotzig ihren Platz. Man kennt sich gut, nicht nur vom Sehen. Die einen wohnen neben den anderen.
»Wo sind sie denn alle hin?«, fragt die Mutter schlieÃlich in das Schweigen hinein.
Der Junge nimmt ihre Hand. Gemeinsam gehen sie den Weg zurück und kommen an der Kapelle vorbei.
»Moment«, sagt er und reiÃt sich los. Er rennt in den Andachtsraum. Dort stehen noch der Stoffbär und das Bild von Evelin auf dem Altar. Er nimmt beides an sich. Er stiehlt die Reliquien, steckt sie unter seinen Mantel. Die Mutter bemerkt es nicht. Sie ist mit anderen Dingen beschäftigt. Sie lächelt abwesend und streicht ihm über das Haar, als er abends vor dem Haus ein Feuer entfacht und alles verbrennt.
Oft noch schleicht er in den nächsten Tagen zum Grab und stiehlt jeden GruÃ, den ein anderer dort hinterlässt. Er ist immer allein, wenn er das tut. Die Einsamkeit nimmt er hin. Es gibt nicht mehr viel, das ihn erreichen könnte.
Irgendwann kommt niemand mehr, und bald darauf verliert der Junge das Interesse an dem Grab. Das Haus der Nachbarn bleibt ihm fortan verschlossen. Man lässt ihn nicht hinein.
ZWÃLF
Als Hero Dyk am nächsten Morgen aufstand, sah er durch das Fenster seines Schlafzimmers den Dachdecker an seinem Schreibhaus arbeiten. Svetlana bat ihn nach dem Frühstück, die frisch gewaschenen Hemden zur HeiÃmangel zu bringen. Das ging nicht mit dem Fahrrad, also nutzte er fast schweren Herzens den Geländewagen, der auf seinem Grundstück geparkt war.
Die Damen bestürmten ihn, kaum dass er den Raum betreten hatte, in dem sie arbeiteten. »Herr Dyk«, riefen sie. »Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Die Zeitung beschreibt Ihr Unglück ja sehr im Detail. Mein Gott, sind Sie unverletzt? Und der Mutter geht es gut? Wo wohnen Sie denn nun? Wo sind Sie untergekommen? Und dann noch dieser Gasthof, der abgebrannt ist. Es soll ja wieder Brandstiftung gewesen sein. Ganz schrecklich ist das alles. Wenn Sie Hilfe brauchen â¦Â«
Hero Dyk beteuerte, weder verletzt noch obdachlos zu sein. Nur das Schreibhaus habe gebrannt.
»Aber die Zeitung â¦Â«,
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