Pilger Des Hasses
Platz zum Zuschauen suchten.
Sie blickten ein wenig benommen zu Cadfael hinüber, wie unerfahrene Trinker, die nicht an starken Wein gewöhnt sind.
Warum auch nicht? Nach so langer Enthaltsamkeit spürte auch er, wie ihm der Rausch in die Füße ging, die dem hypnotischen Rhythmus folgten, und wie ihm die Kadenzen der Lieder in den Kopf stiegen. Diese Ekstase war ihm zugleich vertraut und fremd; er konnte sich hingeben und doch distanziert bleiben, mit den Füßen fest auf der vertrauten Erde das Gleichgewicht halten und aufrecht stehen.
Sie bewegten sich weiter ins Kirchenschiff hinein und wendeten sich nach rechts zum leeren, wartenden Altar. Der weite, verträumte, von der Sonne gewärmte Schoß der Kirche nahm sie mit Halbdunkel, Stille und Leere auf; niemand durfte ihnen folgen, ehe sie sich nicht ihrer Last entledigt hatten, ihre Patronin an ihren Platz gebracht und ihre eigenen unbedeutenden Plätze eingenommen hatten. Dann kam das Gefolge herein, angeführt von Abt und Prior: zuerst die Brüder, die im Chorgestühl Platz nahmen, dann der Stadtvorsteher, die Zunftmeister der Stadt und die Würdenträger der Grafschaft und dann die große Menge der Gläubigen. Sie strömten aus dem warmen Sommermorgen in die kühle, steinerne Dunkelheit, vom aufgeregten Getöse der Feier in die andächtige Stille, bis jeder Platz in der Kirche von einem farbenfroh gekleideten, warmen, atmenden Menschen besetzt war. Alle hielten sich still wie die Kerzenflammen auf dem Altar, und sogar die Lichtreflexe auf den Silberbeschlägen des Sarges standen still und reglos wie Juwelen.
Abt Radulfus trat vor. Die Messe begann mit ernüchterndem Ernst.
Trotz der Kräft der menschlichen Gefühle, die in diesen massiven Wänden und unter einem Dach versam melt waren, vermochte niemand auch nur einen Moment die Augen von der Andacht zu wenden, und keinen Augenblick irrten die Gedanken von der Liturgie ab. In den Jahren seit seiner Berufung hatte es immer wieder Zeiten gegeben, da Cadfaels Gedanken während der Messe abgeirrt und um andere Probleme gekreist waren, die eine Lösung verlangten. Heute kam es nicht dazu. Die ganze Zeit über bemerkte er kein einziges Gesicht in der Menge; er spürte nur die Gegenwart vieler Menschen, in denen sich seine Identität verlor; oder besser, seine Identität breitete sich aus wie Luft, bis sie jeden Teil des Ganzen erfüllte. Er vergaß Melangell und Matthew, er vergaß Ciaran und Rhun, er sah sich nicht einmal um, ob Hugh gekommen war. Wenn er vor seinem inneren Auge überhaupt ein Gesicht sah, dann war es eines, das er noch nie erblickt hatte, wenn er sich auch gut an die zarten, zerbrechlichen Knochen erinnerte, die er mit großer Vorsicht und Ehrfurcht aus der Erde gehoben hatte, und die er mit leichtem Herzen wieder unter dieselbe Erde gelegt hatte, damit sie ihren nach Weißdorn duftenden Schlaf unter den schützenden Bäumen wieder aufnehmen konnten. Aus irgendeinem Grund konnte er sie sich, obwohl sie recht alt geworden war, nicht älter als siebzehn oder achtzehn vorstellen; das Alter, in dem sie gewesen war, als der Königssohn Cradoc sie verfolgte. Die schmalen, kleinen Knochen bewiesen ihre Jugend, und das beschattete Gesicht, das er sich vorstellte, war frisch und eifrig und offen und wunderschön. Aber er sah es stets halb von sich abgewandt.
Wenn überhaupt, dann mochte sie jetzt den Kopf zu ihm wenden und ihn beruhigen, indem sie ihm ihr Antlitz ganz zeigte.
Am Ende der Messe zog sich der Abt auf seinen Platz zurück, rechts neben dem Verbindungsgang zwischen Kirchenschiff und Chor, hinter dem Gemeindealtar, um die Pilger mit ausgebreiteten Armen und erhobener Stimme aufzufordern, sich dem Altar der Heiligen zu nähern. Jeder, der eine Bitte an die Heilige hatte, sollte sie auf den Knien aussprechen und die Reliquie mit Hand und Lippen berühren. Und die Pilger kamen ordentlich aufgereiht und in andächtigem Schweigen. Prior Robert baute sich am Fuße der drei Stufen auf, die zum Altar hinaufführten, und hielt sich bereit, jedem zu helfen, der nicht hinaufsteigen oder knien konnte. Die Gesunden, die keine dringenden Bitten an die Heilige hatten, kamen von der anderen Seite durchs Kirchenschiff und suchten sich Ecken, in denen sie stehen und zusehen konnten, damit sie ja keinen Moment dieses denkwürdigen Tages verpaßten. Nun hatten sie auch wieder Gesichter. Sie unterhielten sich flüsternd, und sie waren so zahlreich und verschieden, wie sie gerade noch ununterscheidbar gewesen
Weitere Kostenlose Bücher