Pilger Des Hasses
Schicksal jetzt in ihren zarten, ängstlichen Händen lag. Sie hatte sich sogar noch ein wenig weitergewagt und hinzugefügt:
»Ciaran kann nicht Schritt halten, der Arme, er muß wie Rhun hier warten. Aber wir können unsere Schritte für sie mitzählen lassen.«
Trotzdem hatte Matthew sich umgesehen und einen Augenblick gezögert, ehe er sich ganz zu ihr wandte und sodann unvermittelt sagte: »Ja, wir können zusammen gehen, du und ich. Ja, laß uns den kurzen Weg zusammen gehen, dazu habe ich gewiß das Recht, dieses eine Mal... ich werde mit jedem Schritt für Rhun beten.«
»Nun, dann lauf und suche ihn«, sagte Frau Alice zufrieden.
»Matthew wird schon auf dich aufpassen. Schau, sie formieren sich schon zur Prozession, also spute dich. Wir warten hier, bis ihr zurückkommt.«
Melangell floh begeistert. Prior Robert hatte seinen Chor mit Blick zum Tor und mit dem Vorsänger Bruder Anselm an der Spitze aufgestellt. Hinter den Mönchen sammelten sich die aufgeregt murmelnden, unruhigen Pilger wie ein Drachenschwanz zu einem langen, farbenfrohen, munteren Zug. Überall prangten Blumen, brennende Kerzen, Opfergaben, Kreuze und Banner. Matthew erwartete sie schon. Er streckte den Arm aus und zog sie neben sich. »Hast du die Erlaubnis bekommen? Sie vertraut dich mir an...?«
»Machst du dir keine Sorgen um Ciaran?« Sie konnte sich die ängstliche Frage nicht verkneifen. »Er muß ja hierbleiben, weil er den Weg nicht schafft.«
Die Chormönche vor ihnen begannen den Prozessionspsalm zu singen, und Prior Robert führte den Zug durch das Tor hinaus.
Die Brüder gingen ordentlich immer zu zweit, danach folgten die Würdenträger der Stadt und danach die lange Reihe der Pilger, die eifrig vorwärts drängten und in den Gesang einstimmten, soweit er ihnen bekannt war oder sie ein Ohr dafür hatten. Der Zug strömte durch das Torhaus und wandte sich auf der Straße nach rechts, nach St. Giles.
Bruder Cadfael ging in Prior Roberts Gruppe; neben ihm war Bruder Adam aus Reading. Es ging die breite Straße an der Mauer der Enklave entlang, am zertrampelten Gras des Pferdemarktes vorbei, und dann, der Straße folgend, nach rechts zwischen einzelnen Häusern und sonnengebleichten Weiden und Feldern zum Rand des Vorortes, wo sich der gedrungene Turm der Hospizkirche, das Dach des Hospizes und der lange geflochtene Zaun des Gartens dunkel vor dem hellen Osthimmel abhoben, gegenüber der Straße leicht erhöht auf einem sanft ansteigenden grünen Hügel gelegen.
Unterwegs wurde der Zug immer länger und bunter, da die Leute aus der Vorstadt ihre Häuser verließen und sich in ihren Sonntagskleidern der Prozession anschlossen.
In der kleinen, dunklen Kirche war nur für die Brüder und die zivilen Würdenträger der Stadt Platz. Die anderen sammelten sich in der Tür und verrenkten die Hälse, um einen Blick auf die Ereignisse im Innern zu erhaschen. Während seine Lippen fast unhörbar Psalmen und Gebete murmelten, beobachtete Cadfael das Spiel des Kerzenlichts auf den Silberbeschlägen, die St. Winifreds eleganten Eichensarg verzierten. Der Sarg stand hoch auf dem Altar, genau wie damals vor vier Jahren, als er aus Gwytherin eingetroffen war. Cadfael fragte sich, ob seine Motive, als er sich zusammen mit sieben anderen Brüdern dazu gemeldet hatte, den Sarg in die Abtei zu tragen, wirklich so lauter gewesen waren, wie er gehofft hatte. Hatte er auf ein Vorrecht gebaut, da er zu denen gehörte, die sie hergebracht hatten? Oder hatte er es als demütige, büßende Geste gedacht? Schließlich war er über sechzig, erinnerte er sich, und der Eichensarg war schwer. Die Kanten schnitten scharf in die altersgebeugten Schultern, und der Rückweg war weit genug, um ihm einiges Unbehagen zu bereiten. Sie würde schon einen Weg finden, ihm zu zeigen, ob sie seine Entscheidung billigte oder nicht; zum Beispiel, indem sie ihm rheumatische Schmerzen schickte.
Der Gottesdienst war vorbei. Die acht auserwählten Brüder, die sich in Größe und Schrittweite ähnlich waren, hoben den Reliquienschrein und setzten ihn sich auf die Schultern. Der Prior steckte den vornehmen Kopf durch die niedrige Tür in den strahlenden Morgen hinaus, und die Menge, die sich um die Kirche gesam melt hatte, gab den Weg für ein Triumphzug der Heiligen frei. Der Prozessionszug stellte sich wieder auf, vorne Prior Robert mit den Brüdern, dann der Sarg mit den Trägern, flankiert von Bannern und Kerzen und eifrigen Frauen, die Blumengirlanden brachten.
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