Pilger Des Hasses
waren.
Bruder Cadfael, der an seinem Platz kniete, sah dem Treiben zu und konnte nun einzelne Menschen unterscheiden, die herankamen, niederknieten und den Sarg berührten. Die lange Reihe der Bittsteller war schon fast vorbeigezogen, als er Rhun bemerkte. Frau Alice stützte ihn am linken Ellbogen, Melangell half ihm auf der rechten Seite, und Matthew folgte dichtauf, kaum weniger gespannt als sie. Der Junge kam mit seinem üblichen, schmerzhaften Gang, und seine herabhängende Zehe kratzte gerade eben über den Fußboden. Sein Gesicht war wachsbleich, aber es war eine strahlende Blässe, die das Auge des Beobachters beinahe blendete. Die großen Augen waren fest auf den Reliquienschrein gerichtet, und sie strahlten wie durchsichtiges Eis mit einem hellen, bläulichen Licht im Innern.
Frau Alice flüsterte ihm leise, ermutigende Worte in das eine Ohr, und Melangell tuschelte ihm ins andere, aber er sah nichts als den Altar, auf den er zuschritt. Als er an der Reihe war, schüttelte er seine Helfer ab und schien einen Augenblick zu zögern, bevor er es wagte, allein weiterzuschreiten.
Prior Robert, der seine Verfassung bemerkte, streckte eine Hand aus. »Es soll Euch nicht in Verlegenheit bringen, wenn Ihr nicht knien könnt, mein Sohn. Gott und die Heilige werden Euren guten Willen anerkennen.«
Das leise, zitternde Wispern, mit dem er antwortete, war in der erwartungsvollen Stille deutlich zu vernehmen: »Aber Vater, ich kann! Und ich will!«
Rhun richtete sich auf und nahm die Hände von den Krücken, die ihm aus den Achseln glitten und umfielen. Die linke Krücke krachte erschreckend laut auf die Fliesen, die rechte wurde von Melangell mit einem schwachen Schrei abgefangen, indem sie vorstürzte und sich auf die Knie warf, um sie zu packen. Sie blieb in der Hocke und umarmte verzweifelt die Krücke, während Rhun seinen verdrehten Fuß aufsetzte und sich aufrichtete. Bis zu den Altarstufen hatte er nur noch zwei oder drei Schritte vor sich. Er ging langsam und gleichmäßig, die Augen auf den Reliquienschrein gerichtet. Einmal schwankte er etwas, und Frau Alice machte Anstalten, zu ihm zu eilen, doch sie blieb sofort verwundert und besorgt stehen, als Prior Robert die Hand ausstreckte, um Rhun zu helfen. Rhun aber achtete nicht auf die Helfer und auf keinen anderen Menschen, er schien außer seinem Ziel und der inneren Stimme, die ihn rief, nichts zu sehen und nichts zu hören. Er ging mit angehaltenem Atem wie ein Kind, das gerade lernt, über gefährlich weite Entfernungen in die offenen Arme der Mutter zu laufen und die Liebkosungen anzunehmen, die es zu der Heldentat verleitet hatten.
Er setzte den verdrehten Fuß auf die unterste Stufe, und nun war der verdrehte Fuß, wenn er sich auch linkisch und ungeübt bewegte, nicht mehr verdreht. Er konnte ihn und das verkümmerte Bein belasten, er legte sein ganzes Gewicht darauf, und das Bein schien seine schöne Form wiedergefunden zu haben und trug ihn sicher.
Erst jetzt bemerkte Cadfael das Schweigen und die Stille. Es war, als hielten alle Anwesenden wie der Junge den Atem an, vom Zauber gebannt, aber noch nicht bereit, noch nicht berechtigt, anzuerkennen, was sich vor ihren Augen abspielte.
Selbst Prior Robert stand wie verzaubert als großes, strenges Standbild seiner selbst erstarrt vor dem Altar. Und Melangell, die immer noch kniete und die Krücke an ihre Brust preßte, konnte keinen Finger rühren, um dem Jungen zu helfen und den Bann zu brechen. Sie verfolgte mit gequälten Blicken jeden Schritt des Jungen, als läge ihr Herz unter seinen Füßen wie ein freiwilliges Opfer, um ihm sein Schicksal zu erleichtern.
Er hatte die dritte Stufe erreicht und sank vorsichtig auf die Knie, während er sich an der Altarplatte und dem goldenen Tuch unter dem Reliquienschrein festhielt. Er hob beide Hände und das entrückte Gesicht, das trotz der geschlossenen Augen weiß und hell war. Kein Laut war zu hören, aber alle sahen, wie er die Lippen bewegte und die Gebete sprach, die er der Heiligen zugedacht hatte. Gewiß enthielten sie keine Bitte um seine eigene Heilung. Er hatte sich einfach demütig und freudig in ihre Hände begeben, und was ihm geschehen war, hatte sie gewiß aus eigenem Willen getan.
Er mußte sich an den Tüchern von den Knien hochziehen wie ein Kind, das sich am mütterlichen Rockschoß festhält.
Zweifellos stützte sie ihn unter den Achseln, um ihm aufzuhelfen. Er neigte den hellen Kopf und küßte den Saum ihrer Tücher, richtete
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