Pilger des Zorns
kommen.
Das Mädchen hob den Kopf, wandte ihn zur Seite und steuerte auf Richwyn zu. Bruder Hilperts anfänglicher Eindruck verstärkte sich. Obschon höchstens 15, war dies kein Mädchen mehr. Dies war eine vor der Zeit gereifte Frau. Blieb die Frage, welcher Dämon dieser bemitleidenswerten Kreatur das Leben zur Hölle machte. Denn was immer geschehen würde: Besiegt war er noch lange nicht.
»Kopf hoch, Röschen – wird schon alles wieder gut!« Kaum war das Lied beendet, breitete Richwyn die Arme aus und redete dem Mädchen gut zu. Seine Stimme war sanft und besorgt, fast zärtlich. Kaum zu vergleichen mit dem Ton, den der Sackpfeifer gegenüber Hilpert angeschlagen hatte. Doch der Gegenstand seiner Zuneigung reagierte nicht darauf, blieb stehen und starrte den Spielmann mit großen Augen an. Augen, die in puncto Schönheit ihresgleichen suchten. Aber auch Augen, die sich plötzlich mit Tränen füllten.
Bevor es zum Äußersten kam, hatte der baumlange Spielmann das Mädchen jedoch in die Arme geschlossen und wiegte es sanft hin und her. »Kopf hoch, Röschen!«, wiederholte er immer wieder. Und dann: »Mit mir an deiner Seite wird dir so etwas nie mehr passieren.«
Bruder Hilpert horchte auf, und im gleichen Moment traf ihn Richwyns Blick: »Um es vorwegzunehmen, Bruder –«, stieß er mir rauer Stimme hervor. »Rosalinde kann nicht sprechen. Damit Ihr Euch keine unnötigen Gedanken macht.« Und dann, mit drohendem Unterton: »Vor allem, was eventuelle Fragen an sie betrifft!«
NACH NONA
Worin der MARKT ZU WÜRZBURG zum Schauplatz einer Begegnung von großer Tragweite wird.
»Euer Geld? In Verwahrung? Und weshalb?« Der bärtige Mittsechziger, Inhaber der Wechselstube am Domplatz, runzelte die Stirn. Irgendetwas war hier faul. Mit 40 Jahren Erfahrung auf dem Buckel merkte man so etwas genau.
»Schon mal was von Pilgerfahrten gehört?«
»Und wohin?«
»Meine Sache!«, beschied ihn der Pfandleiher barsch. »Hauptsache, du verdienst daran, oder nicht?«
Der Alte wog das Haupt, entknotete die Geldbörse und schüttete ihren Inhalt aus. Schon lange hatte er nicht mehr so viel Geld auf einem Haufen gesehen. Dementsprechend groß war sein Erstaunen. Und der Argwohn, den er gegenüber diesem heruntergekommenen Halunken hegte. »Geld ist nicht alles!«, entgegnete er reserviert, während er die Münzen nach Wert und Herkunft sortierte. Ein paar rheinische, in der Hauptsache jedoch Würzburger Gulden. Überwiegend aus Gold. Kreuzer, Schillinge und Pfennige Mangelware. Der Greis massierte die zerfurchte Stirn. Das hier ging wirklich nicht mit rechten Dingen zu.
Blieb die Frage, woher das viele Geld kam.
Der Pfandleiher erahnte seine Gedanken. »Irgendetwas dagegen einzuwenden?«, machte er aus seiner Abneigung gegenüber dem graubärtigen Geldverleiher, der trotz der stickigen Luft in der Wechselstube einen langärmeligen Kaftan trug, keinen Hehl.
Doch der hörte nur mit halbem Ohr hin. »Kommt drauf an«, murmelte er, während er einen Stapel Münzen auf die Goldwaage legte, den Wert abschätzte und im Verlauf der Prozedur immer blasser wurde. Eines stand jetzt schon fest: Dies war die größte Summe, die ihm jemals anvertraut worden war. So groß, dass ihm sein Instinkt riet, die Finger davon zu lassen.
912 Gulden, 33 Kreuzer und 11 Pfennige. Genug, um mindestens zwei Häuser am Oberen Markt zu kaufen. Mobiliar und Hausrat inklusive.
»Was soll das heißen?« Um den Geldwechsler einzuschüchtern, stützte der Pfandleiher seine behaarten Pranken auf den Tresen und reckte das Kinn nach vorn. Beim Anblick der schwarzen Fingernägel, die wie die Klauen eines Wolfs aussahen, zuckte der Alte unwillkürlich zurück.
»Das soll heißen, dass mich die Herkunft einer derart riesigen Summe brennend interessiert.«
Die pergamentfarbenen Züge des Pfandleihers verformten sich zu einer wutentbrannten Fratze, und der Geruch, der dem Alten entgegenschlug, war weindurchtränkt. »Soll das etwa heißen, ich hätte das Geld …«
»Das soll heißen, dass ich mich außerstande sehe, für eine derart hohe Summe den handelsüblichen Zins zu zahlen!«, machte der Alte unmissverständlich klar und wehrte die Klaue, die nach dem Kragen seines Kaftans griff, mit einer reflexartigen Bewegung ab.
Der Pfandleiher hatte verstanden, gab aber trotzdem nicht auf. »Weißt du eigentlich, wer alles zu meinen Kunden zählt?«, geiferte er und trat vor ein mit Schuldverschreibungen, Pergamentrollen und
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