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Pilgern auf Französisch

Pilgern auf Französisch

Titel: Pilgern auf Französisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Coline Serreau
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nichts, dir nichts hat Camille ihm wie eine rassistische Beschimpfung das Etikett des Betrügers verpasst. Said muss eine Lösung finden, damit der »Betrug« am Ende zu seinem Triumph wird. Es wäre sein Traum, dass Camille und Ramzis Mutter ihm seinen üblen Streich und seinen Schwindel verzeihen — die eine, weil sie begreift, dass er es aus Liebe getan hat, die andere, weil sie sieht, dass Ramzi lesen kann. Als Claude seine Schwester als die »tollste Lehrerin des gesamten französischen Bildungswesens« bezeichnet hatte, hat Said wieder etwas Hoffnung geschöpft und wartet nur auf eine Gelegenheit, bei Clara vorzufühlen. Und nun, auf diesem ebenen Weg durch das Aubrac, beschließt er, sie anzusprechen.
    »Stimmt es, was Ihr Bruder sagt — Sie sind Lehrerin?«
    »Ja, für Französisch.«
    »Und Sie wissen, wie man Leuten das Lesen beibringt?«
    »Nein, nein, ich bin keine Grundschullehrerin, ich unterrichte in der Oberstufe.«
    »Ach? Aber ich dachte, Lehrer könnten Leuten das Lesen beibringen...«
    »Dazu habe ich keine Geduld. Kindern das Lesen beizubringen, dafür muss man prädestiniert sein.«
    »Prä-was?«
    »Man muss dazu berufen sein, man muss Talent dazu haben. Der Unterricht ist mühsam, vor allem in gewissen Klassen.«
    »Das stimmt. Mein Vetter Ramzi war auch in so einer Klasse... einer Klasse für Legaten.«
    »Legastheniker.«
    »Ja, für Schüler, die alles verkehrt lesen.«
    Clara: »In Legasthenikerklassen gibt es auch Schüler, die gar nicht lesen können.«
    »Mhm. Manche können gar nicht lesen, nicht einmal ein A erkennen sie. Es sagt ihnen nichts, wenn sie ein A vor sich haben, sie können überhaupt gar nichts damit anfangen...«
    »Ja, das sind sehr behinderte Menschen.«
    »Deshalb sagt Ramzis Mutter immer: >Ramzi muss lesen lernen, Ramzi muss lesen lernen.< Doch es nutzt nichts, es immer nur zu sagen.«
    »Nein, man muss es tun.«
    Clara fragt sich, warum in aller Welt Said mit ihr aus heiterem Himmel über Legasthenie spricht. Will er sich jemandem anvertrauen? Seine Lebensgeschichte erzählen?
    »Dann kann Ramzi also nicht lesen?«
    »Nein, kein Wort, er kann kein A, kein B und auch sonst keinen einzigen Buchstaben lesen. Nicht mal das Wort >Ausgang< in der S-Bahn.«
    »Ach, wirklich?«
    »Ja. Und deshalb habe ich mich gefragt, ob es ihm auf der Wanderung, in den Pausen... vielleicht jemand beibringen könnte?«
    »Ja, gute Idee.«
    »Sie zum Beispiel, das wäre toll!«
    Aha. Nun durchschaut Clara Saids Interesse an ihrer Person. Hatte sie es doch geahnt!
    Mitten auf dem Weg bleibt sie unvermittelt stehen und liest ihm die Leviten.
    »O nein, junger Mann, bei Ihrer großherzigen Alphabetisierungskampagne auf dem Pilgerweg mache ich nicht mit. Zum einen schert es mich einen Dreck, zum anderen unterrichte ich in Épinay-sur-Seine in einer Schule, die inmitten von Betonburgen steht, und Kinder mit Lernschwäche habe ich jeden Tag. Ich muss ihnen Grammatik und Prosa beibringen, das Leben von Jean-Jacques Rousseau und die Versformen im siebzehnten Jahrhundert. Ich tu mich wahrlich schwer, aber ich liebe meinen Beruf. Es gelingt mir, bei meinen Schülern Interesse zu wecken, großes Interesse sogar. In den Abschlussklassen habe ich eine hohe Erfolgsquote. Aber ich bringe Analphabeten bestimmt nicht das Lesen bei. Ohne mich! Jedem seine eigene Sch... jeder muss sein Kreuz selbst tragen.«
    Und sie lässt Said stehen.
    Er sieht seine Hoffnung auf Rehabilitation davonfliegen und marschiert betrübt weiter.

    Ramzi unterhält sich oft mit Claude, sie haben sich angefreundet. Claude fragt ihn, ob er oft pilgern geht.
    »Pilgern? Nein, nich so oft.«
    »Ich mache es zum ersten Mal. Ich bin gar nicht trainiert.«
    »Ich auch nich.«
    »Aber Sie sind doch noch jung.«
    »Sie auch.«
    »Jetzt übertreiben Sie mal nicht!«
    »Und warum machen Sie diese Wanderung?«
    »Ich? Um das Erbe meiner Mutter anzutreten.«
    »Ach ja?«
    »Meine Mutter war verrückt. Sie ist gestorben. Und damit wir ihr Geld erben, müssen wir drei, mein Bruder, meine Schwester und ich, zusammen nach Santiago pilgern.«
    Claude hat diese Worte mit größter Gleichgültigkeit ausgesprochen. Ramzi ist bestürzt.
    »Ihre Mutter is gestorben?«
    »Ja, vor einem Monat.«
    »Oje! Ihre Mutter is vor einem Monat gestorben — da müssen Sie ja schrecklich traurig sein. Entschuldigen Sie, dass ich gefragt habe, ich wusste ja nich... Mannomann, das is hart, die Mutter verlieren. Oje, oje. Ich will gar nich dran denken, wie das is,

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