Pilgern auf Französisch
Abenteuer. Die Jugend ist vorüber, das Erwachsenenalter mit seinen Unannehmlichkeiten hat angeklopft: unbezahlte Rechnungen, vollgekackte Babywindeln, Reparaturen im Haus, eine Frau, die unleidlich geworden ist nach den Schwangerschaften und den schlaflosen Nächten und die die langen Monate der Einsamkeit nicht mehr erträgt, anspruchsvolle und schlimmere Mitreisende, Leute, die sich anmelden und nicht kommen, der Arbeitgeber in Schwierigkeiten, die Kumpel wollen einem die bildhübsche Frau ausspannen, man selbst will seinem Kumpel die Frau ausspannen, weil sie vielleicht ein bisschen weniger herummeckert als die eigene, zumindest in den ersten Wochen, vielleicht auch nur in den ersten Stunden... das Leben, das wirkliche Leben ist nicht lustig, es ist eine Sackgasse, in der man mit beiden Füßen in der Scheiße steckt.
Er denkt immer wieder an Fred, den guten Freund, immer hilfsbereit und jünger als Guy, ein richtiger Schrank von einem Mann ist dieser Fred, und dann sieht er auch noch verdammt gut aus. Fred wird ihm aus der Klemme helfen, er wird das Kind ins Krankenhaus bringen, alles wird gut.
Die Nacht ist hereingebrochen, noch ist es nicht ganz dunkel.
Guy sitzt allein in dieser Küche, allein in seinem Leben. Die Stille drückt plötzlich auf ihn. Durch das Fenster sieht er den Vollmond über dem noch sichtbaren Berggrat, ein paar Kühe liegen mit geschlossenen Augen ruhig auf der Wiese und käuen wieder.
Er sieht, wie schön die Welt ist.
Pierre sitzt im Schlafanzug auf einem wackligen Schemel im Flur und wartet. Eine Pilgerin ruft: »Wir sind so weit, Sie können wieder reinkommen.«
Er kehrt in den Schlafsaal zurück und ordnet weiter seine Utensilien auf dem Bett. Die Pilgerin fragt, ob sie das Licht ausschalten könne. Alle sagen Ja, außer Pierre.
»Nur noch ganz kurz, bis ich meine Sachen aufgeräumt habe...«
Doch die Frau hat das Licht schon gelöscht und wünscht allen eine gute Nacht.
Pierre sitzt im Dunkeln, er schiebt seinen Luxuspilgerkrempel zur Seite, so gut es geht, ein Teil des Essgeschirrs fällt scheppernd zu Boden. Die Frauen murren. Pierre schlüpft in seinen Schlafsack, weitere Sachen fallen vom Bett. Eine Frau spricht aus der Dunkelheit zu ihm wie zu einem kleinen Jungen, mit süßlicher, furchteinflößender Strenge: »Ruhe bitte, wir wollen jetzt schlafen!«
Pierre erstarrt und regt sich nicht mehr.
DER ERSTE TAG der Wanderung ist für die Pilger immer der schlimmste, viele fragen sich, was sie eigentlich hier zu suchen haben. Anstatt zu Hause zu bleiben, schinden sie ihre Beine wie die Ackergäule und müssen auf engstem Raum mit einem Haufen Idioten Zusammenleben, die sie nicht einmal kennen.
Die erste Nacht ist auch nicht besser. Die Wanderung regt den Geist genauso an wie den Körper, und plötzlich brechen Grundsatzfragen über den Sinn des Lebens, über die Qualen, die man aussteht, warum man sie aussteht und wie man sie in Zukunft vermeiden kann, mit aller Macht hervor und stören die Träume, die von Ballast befreien sollen, die manchmal Gefahren verkünden oder den einzuschlagenden Weg anzeigen. Träume, die man nie versteht, Brücken zwischen dem bewussten Leben und der inneren Zerrissenheit, schmerzlich, stechend und nützlich, manchmal komisch, manchmal derb, Träume, die den Schläfer oft in süße Trauer über vergessene Erinnerungen stürzen. Die Träume, die wir alle haben, so verschieden und so ähnlich wir auch sind, sind das wahre kulturelle Erbe der Menschheit. Dieses Erbe können die Pilgertouristen nicht verwerten, man kann es weder kaufen noch verkaufen, es ist virtuell und geheim, privat und kollektiv und unerlässlich für uns alle. Es macht uns deutlich, dass wir alle miteinander verbunden sind durch gemeinsames uraltes Leid, durch beschwerliche Umwege, die Rätsel unseres Lebens und den Seelenfrieden, der sich einstellt, wenn die Knoten sich lösen.
Ramzi träumt, er steht allein auf einem Feld in der Dunkelheit. In der Ferne taucht ein winzig kleines Etwas auf zwei Beinen auf und nähert sich: Ein steinernes A kommt auf ihn zu und wird immer größer, bis es schließlich ein riesengroßes Gebäude ist, das ihn überragt, dann kippt es und senkt sich langsam auf ihn herab. Ramzi meint schon, er wird unter den Steinen zermahnt, aber nein, in letzter Sekunde gelingt es ihm, durch das Dreieck im oberen Teil des A zu entkommen. Er glaubt sich gerettet, doch kaum liegt das Dreieck auf dem Boden, verwandelt es sich in ein tiefes Becken mit
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